Religion: Der Islam
    Inhalt:
    Die Feste im Islam
    Ramadan, der ägyptische Fastenmonat
    Ramadan erleben
    Ramadan 1989
    Ist Fasten gesund?
    TV im Ramadan – Rätsel über Rätsel
    Der fastende Held
    Die Pilgerreise 'al Hadsch'
    Allah ist auch der Gott der Christen
    Unfrieden um den Friedenspreis
    Jesus und Maria im Islam
    Zur Legitimation von Krieg im Islam
    Religion und staatliche Ordnung im Islam

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Die Feste im Islam
von Alfred Huber

Papyrus-Logo Nr. 4/88, pp. 15—16

Das muslimische Kalenderjahr kennt nur zwei kanonische Feiertage: das Fest des Fastenbrechens und das Opferfest. Beide Feste dauern in der Regel drei Tage und entsprechen in ihrem sozialen Wert dem Weihnachts- und Osterfest in Europa.

Ein staatlicher Feiertag ist darüber hinaus der Geburtstag des Propheten. Die übrigen islamischen Feier- und Gedenktage sind ausschließlich religiös motiviert, mit Ausnahme des muslimischen Neujahrstages, der als Schulfeiertag gilt.

I. Das Fest des Fastenbrechens ('Id al-Fitr)

Dieses Fest stellt den definitiven Bruch (Fitr) mit der langen Fastenzeit dar und wird an den ersten Tagen des Monats Šawwal gefeiert. Das "kleine Fest" oder der "kleine Bayram" fällt heuer (1988 –Anm. KFN) vermutlich auf den 17. Mai.

Der eigentliche Festtag ist durch das Feiertagsgebet gekennzeichnet (Salat al-Fitr), wodurch der Fastenmonat Ramadan offiziell abgeschlossen wird. Es ist empfehlenswert, dieses Gebet an öffentlichen Plätzen unter freiem Himmel zu verrichten, so daß möglichst viele Gläubige an einer Stelle versammelt sind. Traditionelle und noch heute beliebte Gebetsorte in Kairo sind die Amr Ibn al-'As-Moschee, die Sayyida Zaynab-Moschee und die Husayn-Moschee. Hinzu kommt neuerdings die Mustafa Mahmud-Moschee, die ebenfalls über einen geräumigen Vorplatz zur Aufnahme der Betenden verfügt.

Der wohlhabende Muslim ist verpflichtet, am ersten Festtag die Sadaqat al-Fitr zu leisten, eine Almosenabgabe, in deren Genuß ärmere Mitbürger kommen sollen. In Ägypten ist es üblich, sämtliche Hausangestellten mit einer Sadaqa zu bedenken. Die Höhe des Almosens richtet sich nach der Anzahl der Familienmitglieder; pro Person soll soviel gespendet werden, wie der Nahrungsverbrauch für vier Tage beträgt.

II. Das Opferfest ('Id al-Adha)

Es wird am 10. Tag des Pilgermonats Du l-Hiğğa gefeiert und soll die Erinnerung an das Opfer Abrahams wachrufen. Nach islamischer Auffassung war Abraham, der Gründer der Kaaba, bereit, sein kostbarstes Gut, nämlich seinen Sohn Ismael (und nicht Isaak) zu opfern. Auch für dieses Fest sind mehrere Bezeichnungen in Umlauf, darunter der persisch-türkische Name Qurban-Bayram (in obiger Bedeutung). In Ägypten wird es gern das "große Fest" genannt, weil es als höchstes islamisches Fest angesehen wird.

Das Opferfest stellt den Höhepunkt der Pilgerfeierlichkeiten in Mekka dar. Die religiösen Verpflichtungen zerfallen dabei in zwei Teile: das Opfer und das Gebet.

Beim Gebet gelten die gleichen Voraussetzungen wie für das Fest des Fastenbrechens: das Gebet am frühen Morgen soll nach Möglichkeit an einem großen Versammlungsort durchgeführt werden. Danach werden die Opfertiere geschlachtet. Meist handelt es sich dabei um Schafe. Mindestens zwei Drittel des Fleisches der Opfertiere sollen an Bedürftige verschenkt werden. Heutzutage wird es auch als erlaubt angesehen, die Opferverpflichtung durch Bezahlen einer adäquaten Geldsumme auszugleichen. Das "große Fest" fällt heuer auf den 24. bis 27. Juli. Ähnlich wie beim kleinen Bayram ist es üblich, sich und den Seinen neue Kleider zu kaufen, sich gegenseitig zu beschenken und zu besuchen.

III. Der Geburtstag des Propheten (Mawlid an-Nabi)

Dieses für das Volksleben sehr wichtige Fest hat sich erst im Laufe der Jahrhunderte entwickelt, obwohl der Geburtstag des Propheten immer bekann war, nämlich der 12. Rabi' Awwal. (Siehe hierzu auch: "Moulid el-Nabi – Der Prophet hat Geburtstag" von Robert Binson –Anm. KFN.)

Der Beginn der Mawlid-Feierlichkeiten geht auf die Dynastie der Fatimiden in Ägypten zurück, die von 968 bis 1171 herrschte. Der erste historisch bezeugte Mawlid wurde 1207 n.Chr. vom Schwager des Ayyubidensultans Saladin im syrischen Arbela gefeiert. In der Folge verbreitete sich dieses Fest in der gesamten islamischen Welt. Im Osmanischen Reich war es das Nationalfest par excellence. Bis heute dauert allerdings der Disput über die religiöse Legitimität des Mawlid an. Traditionalistische Kreise waren der Meinung, dabei handele es sich um eine Neuerung, die im Gegensatz zur Überlieferung stehe. Nachdem das Fest aber einmal im Volk verwurzelt war, fand es mit der Zeit die Billigung (= Iğma') der Mehrheit unter den Ulama'. Gegen den Consensus der Gemeinschaft konnten auch moderne Eiferer wie die Wahhabiten nichts ausrichten, die als einziges Grab in Saudi Arabien das Grab des Propheten in Medina verschonten.

Zu den ägyptischen Volksbräuchen am Mawlid gehörte die Lichterprozession großer Teile der Bevölkerung. Der Umzug der Sufi-Orden am 11. Rabi' Awwal rund um die Husayn-Moschee geht auf diesen Brauch zurück. Die "Arusat al-Mulid", die "Mulid-Puppe", reicht bis in die fatimidische Ära zurück. Bereits in den Wochen vor dem Mawlid an-Nabi werden heutzutage allerorten Zelte und Stände errichtet, in denen diverse Süßigkeiten und Naschereien angeboten werden. Vom Geburtsfest des Propheten, an dem übrigens auch sein Todestag begangen wird, leiten sich die zahlreichen Mawalid für die islamischen Heiligen ab. (Siehe hierzu auch den Beitrag "Ahmad al-Badawi in Tanta" und weitere unter der Kategorie "Sufismus" –Anm. KFN.)

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Ramadan, der ägyptische Fastenmonat
von Alfred Huber

Papyrus-Logo Nr. 4/88, pp. 3—6 und Nr. 1—2/98, pp. 10—13

Ausländer in Ägypten tun sich mitunter schwer, was die Einschätzung des Monats Ramadan betrifft. Einerseits weiß man, daß es sich dabei um den religiös verpflichteten Fastenmonat handelt, andererseits hegt man aber Befürchtungen über die sich daraus ergebenden praktischen Konsequenzen: es werden die volkswirtschaftlichen Produktionseinbußen aufgrund der geringen Arbeitsquantität und -qualität ebenso kritisiert wie die – fastenbedingte – mangelnde Arbeitsmoral der Dienstboten. Eine kritische Lebenseinstellung in allen Ehren; der in hiesigen Regionen Lebende wird jedoch nach wiederholter Anschauung feststellen müssen, daß es produktiver ist, scheinbar fremdartige Gebräuche wie das Fasten im Ramadan mit einem gesteigerten Maß an gutem Willen zu betrachten. Langzeitgäste in Ägypten bestätigen denn auch, daß der geänderte Lebensrhythmus im Ramadan durchaus auch Vorzüge besitzt, was schließlich dazu führe, daß man sich der Faszination dieses Monats kaum mehr entziehen könne.

Der Pascha

Der arabische Mondmonat Ramadan bezieht seine Heiligkeit nicht so sehr aus der Tatsache, daß gefastet wird, sondern aus der "Herabsendung" des Korans, die in diesem Monat erfolgte. Der Beginn der islamischen Offenbarung geschah in einer der letzten, nicht näher bestimmten Nächte des Ramadan, der "Nacht der Bestimmung" (= Laylat al-Qadr), von der es in der 97. Sure heißt: "Die Nacht der Bestimmung ist besser als tausend Monate... In ihr steigen die Engel und der Geist nach dem Gebot ihres Herrn hinab... Sie ist voller Heil bis zum Anbruch des Morgenrots."

Das Fasten im Monat Ramadan von Tagesanbruch bis Sonnenuntergang ist die vierte "Säule" im Islam (neben Glaubensbekenntnis, Gebet, Armensteuer und Pilgerfahrt nach Mekka). Die allgemeine Verpflichtung zum Fasten beginnt am Tag nach dem 29. oder 30. Ša'ban, und zwar dann, wenn der Neumond verläßlich gesehen wurde. Die Nacht des 29. Ša'ban wird "Laylat ar-Ru'ya" genannt, weil dabei kollektiv nach dem Neumond Ausschau gehalten werden soll. Bei der Bestimmung des Fastenanfangs verläßt man sich heute aber zusehends auf die Dienste der Astronomie.

Der erste Ramadan wurde früher in Ägypten durch Kanonenschüsse kenntlich gemacht, heute übernehmen die Medien wie TV und Rundfunk diese Aufgabe. Der allabendliche Kanonenschuß von der Zitadelle Kairos herab zur Anzeige des Sonnenuntergangs im Ramadan ist aber geblieben. Dies ist sozusagen der Startschuß für die rechtschaffen Fastenden zum Beginn des Fastenmahls.

Die Pflicht zu Fasten betrifft alle muslimischen Gläubigen, sofern sie erwachsen, ihrer Sinne mächtig und auch sonst in der Lage sind, das Fasten (Sawm oder Siyam) zu halten. Davon befreit sind schwangere, stillende und menstruierende Frauen, Kranke, Altersschwache und Reisende, denen das Fasten nicht zugemutet werden kann. Wird aus irgendeinem Grund nicht gefastet, so sind die betreffenden Fasttage zu einem späteren Zeitpunkt nachzuholen.

Gültig ist das Fasten, wenn der Muslim die Absicht (Niya) zu fasten formuliert. Diese Absichtserklärung ist täglich vor Tagesanbruch abzulegen; manche Rechtslehrer halten auch eine zu Beginn des Fastenmonats geäußerte Niya für ausreichend.

Nach Al-Gazzali, dem großen Theologen und Mystiker, ist das Fasten das "Tor zum Gottesdienst". Er unterscheidet drei Arten des Fastens: das Fasten der Allgemeinheit, das Fasten der Heiligen und das Fasten der Propheten. Das Fasten der Allgemeinheit beschränkt sich auf die Enthaltung von Essen, Trinken, Rauchen und anderen Äußerlichkeiten. Die höheren Arten des Fastens schließen auch die Enthaltung von geistigen und seelischen Unsitten und Gebräuchen ein. Dadurch wird das Fasten zum "Ğihad an-Nafs", zum Kampf gegen die eigene Triebseele, wobei die umfassende spirituelle Reinheit und Perfektion angestrebt werden soll. Somit gewinnt das Fasten erst dann seine religiöse Tiefe, wenn zum Fasten des Leibes die Übung verschiedener Tugenden hinzukommt: die Zügelung der Augen, der Ohren, der Zunge, das Vermeiden von Lüge und Verleumdung usw.

Nach islamischer Auffassung führt das Fasten die Gläubigen zur Ausübung der Geduld und stärkt ihren Willen zur Überwindung der Widerwärtigkeiten des Lebens. Im Koran (2, 183 f.) wird das Fasten im Ramadan ausdrücklich als Weg und Anleitung zu Frömmigkeit und Gottvertrauen vorgeschrieben.

Immer wieder wird in der islamischen Überlieferung die starke soziale Komponente des Fastens im Ramadan betont. Nach vollbrachtem Fasten soll man sich nicht der Völlerei hingeben, sondern an die ärmeren Mitbürger denken. Demnach werden die Fastenden angewiesen, die solcherart ersparten Speisen und Lebensmittel an die Bedürftigen weiterzugeben. Das Fasten soll auch im Reichen das Mitgefühl für den Armen erzeugen und ihm den "Geschmack des Hungers vor Augen führen".

Im Gegensatz zur christlichen Fastenzeit wird der islamische Fastenmonat von der Majorität der Muslime geradezu sehnsüchtig erwartet. Dies nicht so sehr aus masochistischen oder ähnlichen Motiven, sondern weil der Mensch im Ramadan – wie die Gläubigen selbst sagen – in seiner geistigen wie in seiner körperlichen Erscheinungsform angesprochen wird und dadurch zu einer Einheit und Vollkommenheit gelangt, wie zu keiner anderen Zeit des Jahres. Aufgrund der abendlichen Geselligkeit, ja sogar Ausgelassenheit ergibt sich ein wirksamer Ausgleich für die meditative Atmosphäre des Tages. Es sollen zwar die spirituellen Dimensionen im Ramadan überwiegen, die weltlichen Lustbarkeiten dürfen deshalb aber nicht zu kurz kommen.

Das zeigt sich im ägyptischen Volksleben, das von alten Traditionen und Gebräuchen geprägt ist. Man könnte sogar von einer eigenen "Ramadan-Kultur" sprechen. So gibt es spezielle Ramadanspeisen und -getränke oder Ramadan-Lieder, die von Kindern und Erwachsenen gesungen werden. Die Straßen und Plätze wurden vor der Einführung der Elektrizität während des Ramadans mit Lampen versehen; bis heute lebt die daraus entstandene Ramadan-Lampe (= Fanus) weiter, die zu einem Symbol des Fastenmonats geworden ist und überall angetroffen werden kann. Auch in der Literatur nimmt der Ramadan einen hervorragenden Platz ein. Ramadan-Erlebnisse sind nicht nur ständig wiederkehrende Motive in den Autobiographien oder Erinnerungen diverser Autoren, es gibt auch zahlreiche Schriftsteller von der frühislamischen Zeit bis in unsere Tage, die poetische Reflexionen über den Ramadan angestellt haben.

Eine bekannte Figur der ägyptischen Folklore ist der Musahharati, der, wie sein Name sagt, die Gläubigen zum Suhur, zum letzten Essen vor der Morgendämmerung aufwecken soll. Früher war der Musahharati oft ein professioneller Geschichtenerzähler, heute begnügt er sich meist mit dem Ausruf: "Isha ya nayim, wahhid ad-Dayim" (= Wach auf, o Schlafender und bezeuge die Einheit des Ewigen), wobei er auf einer kleinen Tabla trommelt.

Der Ramadan beeinflußt das Leben in Ägypten ganz entscheidend. Abgesehen vom nachmitternächtlichen Stau auf den Straßen, von den tagsüber leeren Cafés und Gastbetrieben und vom Rummel nach dem abendlichen Fastenbrechen sind auch Industrie, Handel und Medien ganz auf Ramadan eingestellt. Die Tageszeitungen und Wochenmagazine haben eigene Ramadan-Seiten oder Beilagen, Kinos und Theater haben Hochbetrieb und für das Fernsehen ist der Fastenmonat ebenfalls die Hauptsaison. (Siehe hierzu auch den Beitrag: "TV im Ramadan – Rätsel über Rätsel" –Anm. KFN.) Es ist deshalb nicht erstaunlich, daß von religiöser Seite immer wieder Aufrufe ertönen, die esoterischen Seiten im Ramadan nicht zu vernachlässigen und das Konsumdenken einzuschränken.

In diesem Zusammenhang werden bekannte Aussprüche des Propheten Muhammad über Ramadan und Fasten in Erinnerung gerufen. So sagte der Prophet: "Wer im ganzen Ramadan mit Glauben und Verantwortungsbewußtsein fastet, dem vergibt Gott seine vergangenen Sünden." In einer anderen Hadit heißt es: "Wenn jemand im Ramadan eine Pflicht erfüllt, gleicht dies siebzig in anderen Monaten erfüllten Pflichten. Dies ist der Monat der Geduld, und der Lohn der Geduld ist das Paradies. Dies ist der Monat der Versöhnung und der Monat, in dem sich der Lebensunterhalt der Gläubigen mehrt. Der Beginn dieses Monats ist Barmherzigkeit, seine Mitte Vergebung und sein Ende Befreiung vom Feuer der Hölle."

Ein weiterer Ausspruch lautet: "Im Monat Ramadan sind die Pforten des Paradieses geöffnet und die Tore der Hölle geschlossen." Über die Gottgefälligkeit des Fastens wird auch oft der Hadit zitiert: "Der Geruch des Atems eines Fastenden ist Gott angenehmer als Moschusduft."

Viele weitere Traditionen und Überlieferungen aus allen Epochen der islamischen Geschichte legen Zeugnis ab von der Bedeutung des Monats Ramadan für die orientalische Kultur. Der ungebrochene Enthusiasmus, mit dem der Ramadan gefeiert wird, ist ein noch im heutigen Ägypten allerorten zu beobachtendes Phänomen.

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Ramadan erleben
Erinnerungen von T. El Hefny

Papyrus-Logo Nr. 4/88, pp. 7—9

Meinen ersten Ramadan erlebte ich im Jahre 1931, kurz nach unserer Einreisen am Beginn meines neuen Lebens in Ägypten. Er fiel in den Monat März mit verhältnismäßig noch kurzen Tagen. Mein Mann und ich fasteten nicht. Schon die Vorbereitungen für diesen heiligen Monat hatten in mir die Vorstellung von etwas Besonderem erweckt. In allen Geschäften herrschte eine rege Tätigkeit, Hausfrauen, Hausgehilfen kauften ein: Süßigkeiten Mandeln, Rosinen, "Qamar-Ed-Din" in rauhen Mengen, getrocknete Datteln, "Mulabbis", Nüsse u.a. zum Anbieten für die erwarteten längeren Abendbesuche, für eine regere Geselligkeit. Die Spezialgeschäfte für diese Artikel waren besonders herausgeputzt – wie es ja noch heute üblich ist –, Papierschlangen für den Tag, Lampenarrangements für den Abend. Sie brachten bereits eine Vorfreude für eine Festlichkeit, als die diese Fastenzeit empfunden wird. Sie ist gewiß ein Gebot, eine Pflicht, deren Befolgung aber im allgemeinen Freude auslöst. Feste, Verabredungen wurden umgeleitet auf andere Termine, einiges ganz abgesagt.

Als ich dann am ersten Morgen des Ramadantages aus dem Fenster schaute, fand ich die Straßen fast leer, denn die Arbeit begann ja jetzt später. Die Menschen, die ich dann herumgehen sah, erschienen mir so anders als gewöhnlich, ihre Gesichter blickten ernsthaft, sie trugen den Kopf hoch und ließen in mir die Vorstellung aufkommen, daß sie sich voll bewußt sind, ein Gebot Gottes zu erfüllen. Auch in ihrem Zusammentreffen lag eine Einheitlichkeit, eine sie verbindende Gemeinsamkeit, die sie heraushob aus ihrem gewöhnlichen Wesen, ein Gefühl der Sicherheit im Schutze einer höheren Macht, der sie folgen mußten und es mit großer Selbstverständlichkeit auch taten. Sicher ist vieles von dieser ersten Stimmung von mir hineingedacht worden, denn ich erlebte auch oft, besonders kurz vor dem Fastenbrechen, wie unter dem Druck der auferlegten Fastenzeit die Nerven versagten und es zu heftigen Auseinandersetzungen kam. Aber dieses Gefühl des Abgesondertseins von den mir sonst so vertraut begegnenden Menschen ist mir geblieben.

Unsere Hausordnung änderte sich nicht, die Kinder waren zum Fasten noch zu klein; unsere Hausgehilfin mußte kochen und wirtschaften wie immer. Doch schmeckte mir weder das Frühstück noch das Mittagessen gut, immer fühlte ich mich schuldig, fast wie eine Sünderin. Dafür waren die Abende, wieder vereint in gemeinsamen Gewohnheiten, unbelastet, das gesellschaftliche Leben blühte, bis in die späten Nachtstunden saß man zusammen und naschte an den vorbereiteten Süßigkeiten und Häppchen, trank Tee und plauderte munter. Überhaupt ist eine der schönsten Seiten des Ramadan die Zusammengeschlossenheit in der Familie. Während in normalen Zeiten jeder seine Mahlzeit einnimmt, wenn es in seinen Tageslauf, in seine Berufsfreizeit paßt, finden sich im Ramadan alle Familienmitglieder zum "Iftar" zusammen, ziehen Gäste hinzu; so wird diese Mahlzeit fast zu einer Feier.

Ich lernte nun auch, mich in dieses andere Leben hineinzufinden, meine Achtung vor den Fastenden blieb, und ich respektierte sie, vermied es, vor ihnen zu essen oder gar zu rauchen. Auf den Straßen fiel mir auf, daß die Stammgäste in ihren Cafés vor leeren Tischen saßen, und ich erkannte auch hier eine Gemeinsamkeit, besonders in dem Verhalten des Wirts, der ihnen dieses in seiner Gastfreundlichkeit mit Selbstverständlichkeit gewährte.

Ferner unterrichteten mich liebe Freunde von der Sitte, daß für das am Ende des Fastenmonats stehende Bayramfest für die Kinder vollkommen neue Kleidung angeschafft werden muß, was in der damaligen Zeit kaum ein Problem war, da es alles noch zu billigen Preisen zu kaufen gab. Oft habe ich dann den ganzen Monat verbracht, den Kindern neue Kleider zu nähen (es gab noch wenig Kinderkonfektion), fertige Sachen wie Wäsche, Schuhe etc. wurden dann langsam besorgt.

Damals, in den ersten Jahren meines Hierseins, war von Anfang des Ramadan an der Tag des Festes bestimmt, dem der Vortag "Yom el Wa'afa" voranging, der dann bereits zu einem Feiertag wurde. Als einmal der kleine Bayram mit den Weihnachtstagen zusammenfiel, nützte ich dies aus und machte eine "Bescherung", bunte Teller und Geschenke plus Kleidung. Natürlich ging das nicht immer so einzurichten.

Als meine Kinder dann größer wurden, wollten sie auch fasten, schon um sich nicht von den anderen Schulkameraden abzusondern. Ich versuchte, es mit ihnen mitzumachen, aber es mißlang mir gleich am ersten Tag so vollkommen, daß ich es für immer aufgeben mußte. Ich bin zu sehr an kleine Mahlzeiten und an keine langen Eßpausen gewöhnt. Meine Kinder hielten fünf Tage gut durch, dann sah sie unser Hausarzt. Er war erschrocken über ihre bleichen Gesichter, über den tiefen Blutdruck und verordnete sofort: Aufhören! Sie mußten gehorchen, aber ich erfand ihnen einen kleinen Ersatz: ich ließ sie vom Mittagsessen an, das sie damals in den Schulen bekamen, bis zum Sonnenuntergang fasten, d.h. die übliche Nachmittagsmahlzeit, Kakao und Kuchen fiel aus. Das Geld dafür wurde gesammelt, und am letzten Tag des Ramadan kauften sie einige Lebensmittel ein und brachten sie zu einer armen Familie. Es erfüllte sie zwar etwas, aber später, als sie groß und selbständig waren und natürlich in ihren Kreisen am Fasten teilnahmen, machten sie mir Vorwürfe, daß ich es ihnen damals nicht gestattet hatte. Denn sie hatten es nun schwerer, sich ans Fasten zu gewöhnen.

Ramadan im Hochsommer erlebten wir oft in Baltim an der Mittelmeerküste; wir luden dann die Eseltreiber zu einem Essen ein. Merkwürdig kam es mir vor, daß diese jungen Menschen erst das Fasten brechen wollten, wenn es ihnen der Scheikh el-Balad erlaubt. So ritten wir einmal auf dem Heimweg am Wasser entlang, sahen vor unseren Augen die Sonne untergehen, aber als wir ihnen etwas zum Essen anboten, etwa Datteln, lehnten sie diese ab, sie müßten erst die Erlaubnis erhalten

Dort am Meer hatten wir auch einen Zusammenstoß mit dem "Musahharati", dem Mann, der zum "Suhur" aufruft. Er stand einmal so lange vor unserer Hütte und rief so hartnäckig und laut, daß wir ihm zurufen mußten, er möchte doch endlich vorbeigehen. Als es dann später eine Extra-Ration für Zucker gab (es waren damals die knappen und rationierten Portionen), wurden wir übersehen, denn wir fasteten ja nicht, also hätten wir auch kein Anrecht auf besondere Nahrungsmittelausgaben! Das war die Rache des eifrigen Rufers.

Jahre sind vergangen, die ersten Eindrücke aber haben sich bei mir eingegraben, und obwohl sich Ramadan dem Turnus meines Lebens angepaßt hat, mit ihm verwurzelt ist, tritt er doch immer hervor als der Monat, der uns alle aus dem täglichen Ablauf heraushebt, erweckt uns zu vielen Gedanken, er ruft uns mit seinen Geboten auf, anderer Menschen zu gedenken, besonders der Armen, und diesen Freude zu schenken.

Im Fasten aufzuleben, es auch innerlich ganz zu erleben, ist bestimmt schwer für Menschen, die so ganz andere Wurzeln haben. Und doch habe ich gerade in letzter Zeit junge Europäer, die aus innerer Überzeugung zum Islam übergetreten sind, mit leuchtenden Augen bekennen hören, was ihnen dieser Monat bedeutet und daß sie ihn nicht missen möchten. Sie fühlen sich in höhere Regionen versetzt, sie fühlen sich frei von jedem Zwang und sind gelöst in ihrer Verbindung zu einer höheren Macht. Selbst in Europa, trotz der längeren Tage, auch im Sommer, wird ihnen das Gebot des Fastens zu einer Gewissenspflicht, zu einer sie beglückenden inneren Erfüllung.

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Ramadan 1989
von Annegret Haensel

Papyrus-Logo Nr. 3—4/91, pp. 73—74

Abends kurz vor halb sieben. In den Straßen sah ich kaum noch Autos. Mitten in der Innenstadt hatten sie auf dem breiten Bürgersteig am Midan el-Gumhurija flache Tische aufgestellt, und in langen Reihen saßen gläubige Moslems, für die die Heimfahrt zum Essen nicht lohnte, im Türkensitz davor. Jeder hatte einen Teller mit frischen Fladen vor sich und ein Glas Saft. Keiner rührte sich oder sagte ein Wort: eine unheimliche Geistergesellschaft.
Gleich mußte die Zitadelle das Zeichen geben.

Ich überlegte, ob ich die zwei, drei Minuten bis dahin warten sollte, um zu beobachten, wie sie ausgehungert und durstig über Brot und Saft herfielen; würdelos!
Es mochte ja auch nicht so sein. Mit Anstand setzen sie das Glas an die Lippen, teilen den Fladen, wobei sie sich gelassen umsehen, ob noch Zutaten gebracht würden: Bohnen und gekochtes Hammelfleisch, eingelegtes Gemüse, scharf gewürzt, rohe Möhren, Auberginen, Hommus; ein Festmahl? Ich hätte es gern gewußt!

Aber ein kräftiger Windzug fuhr in diesem Augenblick übers Pflaster und trieb eine dichte Staubwolke vor sich her, gerade auf mich zu. Ich sprang ins Auto und schaltete den Motor ein. Ich hatte freie Fahrt und erlaubte mir eine Geschwindigkeit, die normalerweise in der immer vom Verkehr überlasteten City unvorstellbar gewesen wäre.

In den leeren Straßenschluchten entwickelte sich der Wind zum Sturm und wirbelte in heftigen Stößen Papier und Unrat in die Luft. Ich bog auf die 26. Juli-Brücke ein, um den Nil zu überqueren. Ein schwefelgelber Himmel stand im Westen über der Stadt.

Es blieb mir noch ein ganzes Stück zu fahren, und auf dem Rückweg hatte der Verkehr wieder zugenommen. Die Menschen strömten auf die Straßen. In Gesellschaft, satt und gutgelaunt, machten sie Anstalten, an den von neuem eröffneten und erleuchteten Läden, an Garküchen und Cafés vorbei mit Reden und Lachen durch die Nacht zu feiern.

Wie prächtige Schmuckstücke schwankten Ramadanlaternen an von Haus zu Haus gespannten Seilen und warfen unruhige Lichtreflexe über die Menge. Denn der stürmische Wind hatte nicht nachgelassen, und wie hingeweht erschien beim Halt vor einer Kreuzung ein hageres Gesicht vor meinem offenen Seitenfenster, ganz und gar belebt von lustigen, braunen Augen: Verkäufer von Jasminblütenketten. Dicht zu buschigen Kränzen aufgezogen hielt er sie vor mir in die Höhe; der weite Ärmel seiner Galabija glitt ihm dabei bis über seinen knochigen Ellbogen.

"Drei Guinee, Madame, alle!" Dazu spreizte er Daumen, Zeige und Mittelfinger an seiner freien Hand und lachte mir zu.
"Pah, drei Guinee", sagte ich nebenhin und sah von ihm fort in Fahrtrichtung. Eine mühselige Arbeit, gewiß, diese winzigen Blüten zu Hunderten auf einem Zwirnsfaden, und ich warf einen Seitenblick. Aber zeigten sie nicht auch schon einen braunen Schimmer?
"Zwei Guinee, zwei", er knickte den Daumen nach innen.
"Zwei Guinee, und wofür?" Was soll ich mit Jasminketten! Bin ich in Hawaii?
"Guinee", schrie er ausgelassen als alles überbietendes Angebot.
"Einen Guinee", und dabei stand nur noch der Mittelfinger wie ein Fingerzeig hoch.
"Laß mich in Ruhe, Schluß! Ich will nichts! Challas!"

Die Kreuzung wurde freigegeben, und ich gab zögernd Gas. Er lief neben dem Wagen her, wobei er mit geübtem Blick, aber ohne Eile, die schönste Kette aussuchte, den mageren Arm zum Fenster hineinreckte und mit einiger Geschicklichkeit den Blumenkranz über den inneren Rückspiegel warf.
"Herrjeh", rief ich ärgerlich und sah ratlos in das Fach zwischen den Sitzen, wo sonst immer ein paar Geldstücke lagen, "kein Geld!"
"Macht nichts, malesch", winkte er und sprang zurück, um sich vor den anfahrenden Autos zu retten, heute ist ein Festtag, "id iljom, malesch."

Es dauert eine Weile.
Fällt es nicht schwer zu begreifen?
Uns, die wir anders zu denken gewohnt sind!
Er hatte mir seinen Verdienst geschenkt, mir, die ich all' das besaß, was er bitter nötig hatte.

Welch ein fröhliches Herz schlug unter seiner abgetragenen Galabija, daß er sein Schicksal in dieser Art ertrug. Ein König an Gütern über alle, die unvergleichlich mehr ihr Eigen nennen mochten.

In der Nacht regnete es dicke, schwarze Tropfen auf den frisch geweihten Gartentisch.
Keiner konnte sich entsinnen, daß es je im Mai geregnet hätte.

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Ist Fasten gesund? – Fasten aus medizinischer Sicht
von Alfred Huber

Papyrus-Logo Nr. 4/88, pp. 10—12

Immer wenn sich der islamische Fastenmonat nähert, beginnt man besonders hier in Ägypten über die Vor- und Nachteile des Fastens nachzudenken. Einerseits gilt das Fasten als eine der fünf religiösen Pflichten im Islam, der muslimische Gläubige hat somit keine andere Alternative, andererseits haben Fortschritt und moderne Zivilisation eine schrittweise Änderung des Weltbildes herbeigeführt, weshalb immer mehr auch in den islamischen Staaten die Frage nach dem Zweck des Fastens gestellt wird.

Mediziner sind sich darin einig, daß durch das Fasten ein weitgehend positives Erscheinungsbild für den menschlichen Organismus erreicht wird. Das gilt nicht nur für körperlich als "gesund" anzusehende Menschen, sondern auch für solche Menschen, die an gewissen Krankheiten leiden. Es ist selbstverständlich, daß sich bei den meisten Krankheiten von vorn herein nicht die Frage stellt, ob der Patient fasten soll oder nicht. Dennoch wird von den Ärzten darauf verwiesen, daß bei bestimmten Leiden das Fasten imstande ist, eine Linderung, wenn nicht vollständige Heilung herbeizuführen.

Dazu zählt die chronische Blutarmut, die vornehmlich bei Frauen als Folge von Schwangerschaft, Geburt oder des Mangels von Vitamin B-12 auftritt, ferner der Mangel an roten Blutkörperchen, Bluthochdruck, Arterienverkalkung und Angina Pectoris. Die letztere Krankheit ist bei Männern verbreiteter als bei Frauen und wird durch übermäßigen Genuß von fetthaltigen Speisen hervorgerufen. Weiters ist das Fasten medizinisch von Vorteil bei halbseitiger Lähmung, bei chronischer Dickdarmentzündung und bei den meisten Krankheiten des Verdauungstraktes, sowie bei zahlreichen Hautkrankheiten. Im allgemeinen kann man davon ausgehen, daß all diejenigen Krankheiten, die eine falsche (oder) einseitige oder ungenügende Ernährung zur Ursache haben, durch vorübergehendes Fasten gelindert bzw. sogar geheilt werden können.

Das Fasten im Monat Ramadan hat demnach für die Muslime nicht nur spirituellen Charakter, sondern kann auch medizinisch gesehen als eine Maßnahme zu besserem körperlichem Wohlbefinden betrachtet werden. Bereits in einem Ausspruch des Propheten Muhammad heißt es: "Hungert, damit ihr gesund werdet."

Das Übertreiben von Essen und Trinken ist somit keine neue Erscheinung. Ein anderer Hadit des Propheten über die Eßlust seiner Zeitgenossen lautet: "Wir sind ein Volk, das erst dann ißt, wenn es hungrig ist. Aber wenn wir essen, werden wir nicht satt!'

In diesem weisen Ausspruch steckt die Erkenntnis, daß das Essen eigentlich nicht satt macht. Und je mehr man ißt, um so weniger wird man satt.

Das Fasten im Ramadan ist gerade das Gegenteil davon. Hier wird das Gefühl des Hungers kultiviert, es wird bewußt auf Essen und Trinken verzichtet, um dadurch den Wert von Speise und Trank richtig zu würdigen.

Natürlich gibt es auch kritische Stimmen die am Fasten im Monat Ramadan vor allem dessen scheinbar negative Aspekte betonen. So wird oft gesagt, daß Fasten den Körper schlapp und faul macht, wodurch der Mensch nicht mehr imstande ist, seinen beruflichen oder gesellschaftlichen Aufgaben in vollem Umfänge nachzugehen. Das ist zweifellos nicht ganz falsch. Von medizinischer Warte wird jedoch in diesem Zusammenhang betont, daß ein leerer Magen oft zu besserer Konzentration und dadurch zu besseren Arbeitsergebnissen führen kann. Dadurch wird das arabische Sprichwort bestätigt, das da lautet: "Nichts setzt die Kräfte zur Arbeit in dem Maße frei, wie ein leerer Magen."

Ärzte weisen, vor allem zu Beginn der Fastenzeit, auf die Umstellung des Körpers hin, dessen Eß- und Trinkgewohnheiten radikal verändert werden. Am ersten Fasttag kommt es deshalb oft zu leichten Kopfschmerzen und zu Ohrensausen, sowie zu Schwindelgefühlen. Diese Erscheinungen werden von den Medizinern als "Symptome des Fastens"' bezeichnet. Diese Symptome treten aber nur dann auf, wenn ohne entsprechende Vorbereitung gefastet wird. Vielmehr ist es ratsam, einige Tage vor dem Beginn des Fastens die täglichen Eß- und Trinkrationen herabzusetzen, um so den Organismus die bevorstehende Veränderung im Energiehaushalt zu signalisieren. Ebenso kann zu Beginn des Fastens ein Beklemmungsgefühl im Magen auftreten, das gemeinhin "Hungergefühl" genannt wird, das aber ebenfalls bald verschwindet, wenn sich der Organismus einmal umgestellt hat.

Es gibt die medizinische Faustregel, daß ein voller Magen ein Drittel der im Gesamtorganismus vorhandenen physischen Kräfte und Energien zu seiner Verdauung benötigt. Das ist darauf zurückzuführen, daß ein Drittel der gesamten Blutmenge im Verdauungstrakt gebunden wird. Die Folge ist ein Blutmangel in anderen Teilen des Körpers, besonders im Gehirn. Im Falle der Einnahme von fettreichen Speisen ist automatisch eine Schlappheit des Körpers zu verzeichnen, die jede Müdigkeit, die durch ein mehrstündiges Fasten hervorgerufen ist, bei weitem übertrifft.

Bei körperlicher Arbeit büßt der Organismus zwar im Laufe des Tages an Leistungsfähigkeit ein, bei einem gesunden Menschen wird dann jedoch die notwendige Energie aus den Reservebeständen geholt. Und nach einigen Tagen Gewöhnungszeit sind sogar Arbeiter in der Schwerindustrie imstande, das Fasten während des Tages ohne Schaden oder Krafteinbußen zu überstehen.

Selbstverständlich muß man hier auch die klimatischen Bedingungen berücksichtigen. So kann sich der Flüssigkeitsmangel stärker auf die Leistungskraft auswirken, als der Nahrungsmangel. Da die meisten islamischen Länder in Wüstenzonen, bzw. klimatisch heißen Gebieten liegen, beklagen sich denn auch die meisten Fastenden über den quälenden Durst, unter dem sie, besonders wenn der Ramadan in die Sommermonate fällt, zu leiden haben. Im allgemeinen aber wird das Fasten für geistig Arbeitende leichter vertragen, als für körperlich Arbeitende. Der Grund dafür liegt, wie bereits angedeutet, darin, daß die Blutversorgung durch das Fasten gesteigert wird. Vor allem die Regionen des Gehirns werden stärker durchblutet, da der Organismus nicht mit der Verdauung und sonstiger Blutverschwendung beschäftigt ist. Insofern kann durch das Fasten eine stärkere geistige Konzentration erzielt werden.

Die körperlichen Vorteile des Fastens werden allerdings nur dann offenbar, so betonen die Ärzte, wenn das abendliche Fastenbrechen nicht zu einer Freßorgie ausartet. Zum Iftar, bzw. zur Suhur, der letzten Mahlzeit vor Beginn des nächsten Fasttages, soll man nicht mehr essen als sonst. Beim Trinken muß man nicht so vorsichtig sein, es ist sogar möglich, auf Reserve zu trinken. Die Mediziner empfehlen, das Iftar-Essen mit Datteln und einem Getränk zu beginnen. Dabei stehen Fruchtsäfte, wie das in Ägypten beliebte Qamar-Ed-Din oder eine Suppe, zum Beispiel eine Gemüse- oder Tomatensuppe, zur Auswahl. Die Hauptspeise soll möglichst fettarm sein und mit viel frischem Gemüse serviert werden. Dazu ißt man Brot, am besten Baladibrot, aber nicht zuviel. Und die Nachspeise sollte überhaupt erst einige Zeit später verzehrt werden. Hier ist frisches Obst den übermäßig gezuckerten Süßigkeiten wie Konafa oder Qataif vorzuziehen.

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TV im Ramadan – Rätsel über Rätsel
von Jasmin Foaud und Elke Marold

Papyrus-Logo Nr. 04/88, pp. 24—25

Mitte April ist es mal wieder soweit: Hungrige und durstige Seelen, übernächtigt von dem Trubel der Abend- und frühen Morgenstunden, werden Kairos Straßen noch unwegsamer und chaotischer machen, als sie ohnehin schon sind. Aber mit dem Kanonenschlag zum Sonnenuntergang wird nicht nur der Straßenverkehr weitgehend ruhen, sondern auch das Fernsehprogramm – wenn auch nur für die halbe Stunde des langersehnten Frühstücks. Dann startet das Kinderprogramm für die Kleinen, damit den Großen für ihren Frühstücksschwatz noch etwas Zeit bleibt.

Zu etwas fortgeschrittener Stunde erinnert das Fernsehen dann auf seinen verschiedenen Kanälen an den religiösen Hintergrund der Fastenzeit. Als 4. Folge erscheint allabendlich in diesem Jahr unter dem Titel "La-ilah-illa-Allah" (Es gibt nur einen Gott) die Lebensgeschichte des Propheten Joussef (Joseph). Für das Fernsehen geschrieben wurden die Prophetengeschichten von Amina El Sawy. Die Hauptrollen spielen Leila Fawzi, Hodar Sultan und Rashwan Tawfik. Die eigentliche Hauptrolle, nämlich die des Joussef, bleibt dagegen unbesetzt, denn nach islamischer Auffassung ist es unmöglich, einen Religionsheiligen von Menschen darstellen zu lassen. Die Worte des Propheten werden durch himmlische Stimmen oder die Stimme eines Freundes ersetzt.

Ebenfalls in 30 Folgen läuft in den Ramadannächten die Sendung "Islam und Kultur" über den Bildschirm, geschrieben von Mahmoud Shaabani. Sie handelt vom Islam zur Zeit der 4. Hegra (dem 4. Moslemjahr) in Spanien unter Abdel Rahman el Nassr. In den Hauptrollen spielen Ashraf Abd el Ghafour und Madiha Hamdi.

In weiteren 15 Folgen geht es in der Serie "Koran-Geschichten" um die Propheten und die Tiere, die deren Handlungen als Willen Allahs symbolisieren (z.B. der Stab Moses', der zur Schlange wird oder das Opferlamm des Ibrahim/Abraham).

Doch steht die Religion weit weniger als vermutet im Ramadanprogramm im Vordergrund. Von allen mit Spannung erwartet, wird einmal wöchentlich ein neuer ägyptischer Fernsehfilm ausgestrahlt werden. Auch die beliebten Simseliyas, die Familienserien, kommen nicht zu kurz. Die Presse gibt schon einen kurzen Vorgeschmack: Die Serie "Der zweite Vater", geschrieben von Kawzar Heikal unter der Regie von Mohammed Shaker, wird im Ramadan die Spannung heben. Es geht diesmal um einen reichen Mann, der unter seinem Stande heiratet und diese Heirat deshalb geheim hält. Seine Frau schenkt ihm einen Sohn, aber die Ehe nimmt trotzdem kein gutes Ende. Er läßt sich scheiden, die Frau verweigert ihm jedoch seinen Sohn. Der Titel läßt ahnen, daß sich daraus in den insgesamt 13 Folgen noch gewaltige Konflikte entwickeln werden.

Ein großer Höhepunkt wird jedoch für viele die allabendliche Fazura, die große Rätselsendung, sein, denn hier kann man sein Glück machen, ja, eventuell sogar großes Glück! Neben Kühlschränken, Waschmaschinen, Möbeln, Goldmünzen und größeren Geldbeträgen kann man auch funkelnagelneue Autos, eine Wohnung oder gar ein Haus gewinnen. Vielleicht lassen sich die Firmen, die sich alljährlich zu diesen Rätselsendungen zusammenschließen, in diesem Jahr noch größere Gewinne einfallen, denn in den letzten Jahren waren stetig Steigerungen in Gewinnhöhe und -qualität zu verzeichnen.

Jede Rätselsendung dauert etwa eine halbe Stunde, in der sich zunächst die Spenderfirmen mit ihren Produkten vorstellen. Dann rauchen die Köpfe: Ein Flugzeug überfliegt Weltmeere, eine ägyptische Dame von Welt parliert plötzlich fremdartig zwischen den vertrauten Lauten. Wo mag die große Stadt mit den merkwürdigen Häusern und den eleganten Geschäften nur sein? "Was die Leute für komische Sachen anhaben?" staunte Ibrahim im letzten Jahr.

Dieses Jahr wird es leichter für ihn, denn es geht nicht um fremde Städte, die er allenfalls von Bildern kennt, sondern um ägyptische Feste – religiöse, soziale und nationale. Hier kennt er sich aus. Das Bayram-Fest erlebt er schließlich jedes Jahr und die Festlichkeiten für den 23. Juli, dem Revolutionstag, wird er wohl noch vom fröhlichen Sham-El-Nessim-Treiben unterscheiden können. Seinen Spaß wird er dabei auch haben, denn diesmal wird der dicke Komiker Yehia Fakharany dabei sein, eingerahmt von zwei Landesschönen, der Tänzerin und Sängerin Zabrin und der Schauspielerin Hala Fouad. Alle sind seit dem 3. März dabei, die Rätsel in Szene zu setzen – natürlich hinter den verschlossenen Türen des Studios. Ausgedacht hat sich die Geschichten Joussef Ohf. Regie führt auch in diesem Jahr wieder Fahmi Abd el Hamid, ein alter Hase auf diesem Gebiet, der weiß, wie man dem ägyptischen Publikum das Rätselraten schmackhaft macht. Finanziert werden diese Sendungen ausschließlich von den Firmen, die die Gewinne aussetzen. Die Teilnahmescheine kann man an jeder Straßenecke für LE 1 erwerben. Diese Einnahmen fließen der defizitären Staatskasse zu. Billiger hingegen sind die Zettel mit den Lösungen, die man für 5 Piaster auf dem "schwarzen Markt" erwerben kann, wenn der Familienverstand nicht ausgereicht hat, um hinter des Rätsels Lösung zu steigen. Die alljährliche Teilnehmerzahl ist so umfassend, daß sie eine Volkszählung ersetzen könnte. Auch das jüngste Familienmitglied wird beim Ausfüllen der Lösungsblätter nicht vergessen, denn mit der Anzahl der Familienmitglieder steigt die Gewinnchance. Nun heißt es allerdings, sich in Geduld zu fassen, denn erst im September/Oktober werden die Gewinner ermittelt sein, obwohl inzwischen Computer das langwierige Auszählen übernehmen.

Dann aber heißt es für den glücklichen Hauptgewinner: ab ins Fernsehstudio! Denn schließlich wollen alle Leerausgegangenen – und das sind bei der hohen Bevölkerungszahl natürlich die Allermeisten – an seinem großen Glück vor der Mattscheibe teilhaben.

Ibrahim war noch nie unter den Glücklichen, obwohl er jedes Jahr mehr Lösungszettel abgibt als im Vorjahr, denn seine Familie wächst beständig. Ist es tatsächlich Allah, der die Gewinner auserwählt? Er schüttelt verständnislos den Kopf. Aber sein Ältester weiß, daß ihm auch in diesem Jahr wieder Schwerstarbeit bevorsteht: Das Ausfüllen der Teilnahmescheine für die ganze Familie – in diesem Jahr werden es neunundzwanzig sein!

Wie den Großen, so auch den Kleinen: Ihre Rätsel wird ihnen Großvater Abdou, gespielt von dem Komiker Abd el Moneim Madbouly, aufgeben. Jedes Buch, das er aus seiner reichhaltigen Bibliothek hervorholen wird, erzählt die Geschichte eines berühmten Mannes. Ist von Mustafa Kamel die Rede? Oder müssen wir eher in das Reich der großen Pharaonen zurückgehen? – Auch der eigene Großvater wird hier wohl noch manche Nuß zu knacken haben!

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Der fastende Held
von Margot El Sharkawy

Papyrus-Logo Nr. 3—4/94, pp. 72—73

Bevor Ruth, eine gläubige Christin, den Moslem Amin heiratete, hatte sie sich noch nie mit dem Islam befaßt. 'Ramadan' war für sie ein Wort, das sich, mit etwas Glück, in Kreuzworträtseln nach korrekter Lösung der senkrechten Felder von selbst ergab. Amins Religiosität trat in den ersten Jahren ihrer Ehe nur sporadisch auf, begann aber, nach der Geburt seiner Kinder Sherif und Nadja, sich allmählich zu festigen. Darum geschah es auch, daß der Ramadan seinen offiziellen Einzug in Ruths Heim erst sechs Jahre nach ihrer Hochzeit hielt. Amin hatte sie gut auf ihn vorbereitet, hatte ihr erklärte daß er nun einen ganzen Monat lang von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf Speise und Trank verzichten müsse, keine Medikamente oder Spritzen empfangen, nicht rauchen und keine Frau anrühren dürfe. Es sei ihm verboten, böse Worte zu gebrauchen oder Ungeduld zu zeigen. Kurz und gut: zu einem Engel in reinster Form müsse er werden.

Theoretisch schien das alles durchführbar zu sein, doch die Praxis schlug Ruth wie ein nasser Lappen ins Gesicht. Schon beim morgendlichen Erwachen begann es: "Guten Morgen, Schatz!" Küßchen, freches Streicheln... "HALT! Das ist verboten." Er stand auf, betete, verließ das Haus, um seiner Arbeit nachzugehen – kam schon um 15 Uhr heim, denn die Arbeitszeiten hatten sich verkürzt. Nach erneutem Beten legte er sich ins Bett. Leichte Schatten unter seinen Augen verrieten seine Erschöpfung. Sonnenuntergang war um 18.30 Uhr, aber um 16.00 Uhr stand er schon wieder in der Küche, hob die Deckel der Töpfe auf dem Herd. Er schaute nur hinein – Riechen könnte Verlangen ausdrücken, und das war sündhaft. "Hast Du gegessen?" fragte er Ruth. Es schien ihm ein orgiastisches Vergnügen zu bereiten, ihr etwas zu essen oder trinken anzubieten – gab ihm das nicht um so mehr Gewißheit, die Willenskraft zu besitzen, all dem zu entsagen?

Um 16.45 Uhr fragte er, ob sie nicht beginnen wolle, die Suppe heiß zu machen. "Amin, es sind noch fast zwei Stunden – die Suppe ist bis zum Essen verdampft." Also mußte er sich die Zeit noch etwas vertreiben. Er begann zu boxen – mit einem unsichtbaren Sparringpartner einen siegreichen Kampf über die Runden zu bringen und brach, trotz Erfolg, auf dem nächststehenden Sofa zusammen. "Wie lange braucht Reis, um heiß zu werden?" – "Zehn Minuten!" Blick auf die Uhr: 17.18 Uhr. "Eine reichliche Stunde noch, und der erste Tag ist geschafft!" Optimismus ist immer gut – es folgten ja nur noch 27 oder 28 Tage, denn der Ramadan ist ein Mondmonat und richtet sich nicht nach unserem neuzeitlichen Kalender. Erneuter Versuch mit dem Bett in der Hoffnung, trotz Durst vielleicht doch einzuschlafen. Es klappte nicht. Sherif lag neben ihm, Nadja ritt auf seinem Bauch und gab ihm schlabberige Küsse. Die waren erlaubt, weil sie aus Unschuld verteilt wurden.

"Wo ist die Zeitung?" Das war es – das war die Lösung – wenigstens 15 Minuten konnten damit vertrieben werden. Er las sie den Kindern laut vor. Nadja hielt einen aufgeweichten Keks in der Hand, steckte ihn Amin zwischen die Zähne und verursachte einen Aufschrei! Fast hätte er unbewußt hineingebissen und sich im letzten Zehntel des Tages noch versündigt... alles Fasten wäre vergeblich gewesen. Die Kinder wurden in ihr Zimmer gebracht. Amins Lippen begannen jetzt wirklich, sehr trocken auszusehen – Ruth litt mit ihm. "Amin – muß diese Qual sein?" "Es ist keine Qual! Es ist ein Gebot, das mir von meinem Glauben auferlegt wird. Wenigstens einen Monat lang im Jahr muß ich fühlen, wie einem Menschen zumute ist, der sich nach Essen und Trinken verzehrt, in Armut existiert. Wie sollte ich sonst wohl Barmherzigkeit erlernen?"

Was Armut, Hunger und Durst sind, hatte Ruth als Kind in Deutschland während der Kriegs- und Nachkriegsjahre nur zu hart am eigenen Leibe erfahren und nie vergessen, aber Amin teilte diese Erfahrung nicht. Darum folgte er dem Gebot des Islam und fastete.

Hätte sie es um 17.45 Uhr abgelehnt, die Suppe zu erhitzen, wäre er ungeduldig mit ihr geworden, und das mußte auf jeden Fall vermieden werden. Der Tisch war seit zwei Stunden gedeckt, die Gläser für das traditionelle Getränk Amareddin, aus getrockneten Aprikosen, standen bereit, die Suppenkelle wartete nur darauf, in die Terrine zu kommen. Jetzt konnte das Radio angestellt werden. Die Räume hallten wider vom hohen Tenor des Scheiches, der Suren aus dem Koran vortrug. Amin saß auf seinem Gebetsteppich. Er betete mit einer Inbrunst, die man eigentlich nur von sehr jungen oder sehr alten Menschen erwartet.

18.30 Uhr! Aus dem Radio kam die Stimme des Ansagers: "Liebe Zuhörer in Kürze wird ein Kanonenschuß Ihnen den vollen Untergang der Sonne verkünden." Einige Sekunden lang folgten die sehnsüchtigen Laute einer Nei. Amin und Ruth gingen mit den Kindern hinaus, auf ihren Balkon, und schauten zum Horizont, an dem die glutroten Feuerstrahlen der verschwundenen Sonne sich der nahenden Dunkelheit ergaben. Und dann kam er – der donnernde Schuß einer Kanone, gefolgt von dem Ruf 'Allahu Akbar' von den Minaretten aller Moscheen dieser Stadt, ein Ruf, tief ergreifend und überwältigend, mit seinem tausendfachen Echo. Jetzt hört Zeit auf, eine Rolle zu spielen – eher langsam als eilig begab die Familie sich zu Tisch. In diesem Moment hatte sich das Leiden des ganzen Tages selbst für Ruth gelohnt, denn der Friede auf Amins Gesicht strahlte auf sie alle aus.

Viele Ramadans kamen und gingen seit jenem ersten, und ein neuer steht kurz vor der Tür. An seinem Tagesablauf wird sich auch diesmal nicht viel ändern, aber einen Unterschied wird es geben: Ruth kennt nun seine tiefe Bedeutung und ist stolz darauf, ein Teil des Ganzen geworden zu sein.

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Die Pilgerreise 'al Hadsch'
von Baraka Maatwk

Papyrus-Logo Nr. 3—4/2001, pp. 20—24

Aspekte aus dem Koran:
Die Pflicht – Das Haus – Der Stein – Der Mensch –
Die Vergebung – Das Tier – Die Rede

Wie in jedem Jahr hört und sieht man in den Straßen zur Zeit des arabischen Pilgermonats laut hupende Autos, aus ihren Fenstern hängen kleine weiße Fahnen, das Zeichen dafür, dass jemand zur 'Hadsch', zur Pilgerreise, unterwegs ist. In den ägyptischen Häusern, in denen jemand zur Hadsch aufbricht, ist der Alltag unterbrochen, denn es gibt viele Vorbereitungen zu treffen. Verwandte und Freunde werden besucht, um sich voneinander zu verabschieden, die spezielle Kleidung muss eingekauft werden, und das alles oft sehr kurzfristig, da man das Visum erst in der letzten Minute erhält. Im Fernsehen kann man verfolgen, wie die Menschenmassen, in Weiß gekleidet, um die Kaaba (Haus Gottes) schreiten, beten oder gemeinsam am Berg Arafat stehen.

Für nicht-muslimische Gemüter mutet vieles sicher recht fremd an. Die Grundlagen für die Hadsch sind im Koran niedergeschrieben. Hier lassen sich ihre Wurzeln, vielleicht auch einige Erklärungen, finden, sicherlich jedoch Anregungen für die Diskussionsrunden, die zurzeit auch hier in Ägypten überall entstehen.

Die Pflicht

Die Pflicht zur Reise wird als eine der tragenden Säulen des Islam verstanden, jedoch nur für denjenigen, der es sich finanziell leisten kann. Aufgerufen zur Hadsch wird in Sure 22, Vers 28:
"Und verkündige den Menschen die Pilgerfahrt: Sie werden zu Dir kommen zu Fuß und auf jedem hageren Kamel, auf allen fernen Wegen... "
In Sure 3, Vers 98, heißt es:
"In ihm (dem Haus Gottes, der Kaaba) sind deutliche Zeichen. Die Stätte Abrahams – und wer sie betritt, hat Frieden. Und Wallfahrt zu diesem Haus – wer nur immer einen Weg dahin finden kann – ist den Menschen eine Pflicht vor Allah. Wer aber ablehnt (möge bedenken), dass Allah sicherlich unabhängig ist von allen Geschöpfen."

Neben den anderen Pflichten für den Moslem wie Beten, Fasten usw. ist dies wohl die Pflicht, der am liebsten nachgegangen wird. Selbst ältere Menschen versuchen sie zu erfüllen.

Leiht man sich das Geld für die Reise, muss sichergestellt sein, dass es bis zu einem abgesprochenen Termin zurückgezahlt werden kann. Schulden sollten zurückgezahlt sein, es sei denn, man kann sich relativ sicher sein, die Schulden in absehbarer oder vereinbarter Zeit begleichen zu können. Oder aber man holt das Einverständnis desjenigen, dem man schuldet, ein. Ebenso wichtig ist es, ein Testament zu hinterlassen, um klare Verhältnisse für die dann Hinterbleibenden zu schaffen. In diesem muss unter anderem stehen, ob man noch Geld schuldet aber auch, ob man selbst Geld verliehen hat.

Dies zum Schutz der Rechte anderer Personen über einen selbst, falls Schulden anstehen, oder man selbst Geld verliehen hat. Ein Testament sollte für einen Moslem immer vorliegen, wird aber für die Hadsch noch ausdrücklich empfohlen. (Anm. 1)

Ist jemand verstorben, der in seinem Leben diese Reise nicht machen konnte, kann jemand anderes diese Pflicht für ihn ausführen, sofern er die Reise selbst schon einmal gemacht hat.

Das Haus

Nach islamischer Überlieferung wurden die Grundsteine für die Kaaba von Engeln gelegt; sie wurde weitergebaut von Adam und fertig gestellt von Abraham. Betont wird jedoch, dass es darüber keine sicheren Quellen gibt.

Gesichert ist jedoch, dass es das erste Gotteshaus überhaupt ist. Im Koran heißt es dazu in Sure 3, Vers 97:
"Wahrlich, das erste Haus, das für die Menschheit gegründet wurde, ist das zu Bakka (Tal von Mekka) – überreich an Segen und zur Richtschnur für alle Völker."
Auch die Sure 2 geht in Vers 128 darauf ein:
"Und (gedenket der Zeit) da Abraham und Ismael die Grundmauern des Hauses errichteten...",
ebenso im Vers 126:
"Und (gedenket der Zeit) da Wir das Haus zu einem Versammlungsort für die Menschheit machten und zu einer Sicherheit: 'Nehmet die Stätte Abrahams als Bethaus an'."

Selbst wenn die Entstehung der Kaaba nur auf (die Zeit) Abraham(s) zurück geführt werden kann, ist keine ältere Kultstätte als Gotteshaus und dem Monotheismus geweiht bekannt.

"Der Platz des Hauses ist von Gott bestimmt", so lautet es im Koran in Sure 22, Vers 27:
"Und (bedenke) wie Wir für Abraham die Stätte des Hauses bestimmten (und sprachen): 'Setze Mir nichts zur Seite, und halte Mein Haus rein für diejenigen, die den Umgang vollziehen und die stehen und sich beugen und niederfallen (im Gebet)...'."

Besonderer Wert wird im Islam darauf gelegt, dass keine Götzen geschaffen werden. Zwischen dem Menschen und Gott besteht eine unmittelbare Verbindung, weder ein menschlicher Vermittler noch ein Haus oder ein Stein könnte sie schaffen. So dient die Kaaba dem Gläubigen lediglich als Orientierung für die Gebetsrichtung und als Trägerin des 'Schwarzen Steines'.

Der dort empfundene Frieden wird als Belohnung für die Gebete angesehen, er geht nicht vom Gotteshaus an sich aus.

Bukhari, ein bekannter Gelehrter, der die Aussprüche (Hadithe) des Propheten gesammelt hat, berichtet von einem Prophetenwort, welches besagt, dass die irdische Kaaba der Gegenpol zur Moschee der Engel unter dem Thron Gottes sei und dass, wenn ein Stein von ihr herunterfallen würde, dieser genau auf das Dach der irdischen Kaaba träfe. Man verneigt sich also in Richtung zum Göttlichen Thron.

Laut Ibn Kathir, einem islamischen Rechtsgelehrten, gibt es in jedem der sieben Himmel eine Kaaba für die Bewohner dieser Himmel. Der Name der Kaaba im siebten Himmel heißt 'Al-Bait Al-Marmur' (das vielbesuchte Haus), wobei sich Kathir auf die Sure 52, Vers 4 beruft. (Anm. 2)

Der Stein

Der Stein ist Ausgangspunkt für die rituellen Umschreitungen der Kaaba durch die Pilger. Im Jahre 318 H./ 930 A.D. wurde er bei der Plünderung Mekkas durch die Karmaten gestohlen. Er verblieb 21 Jahre in Oman. Auch während dieser Zeit wurde die leere Stelle weiterhin als Ausgangspunkt benutzt.

Ungesichert ist das Wort, welches dem Propheten zugesprochen wird, der Stein sei symbolisch die rechte Hand Gottes. Gott wird auch als 'Der König' betrachtet und so wie ein Untertan zu seinem König kam, um den Treueschwur zu leisten, indem er ihm die rechte Hand küsste, so soll der Muslim seine Treue bezeugen, indem er den Stein berührt.

Eine gesicherte Überlieferung berichtet von einer Begebenheit aus vorislamischer Zeit, in der Mohamed wegen seines Urteilsvermögens geschätzt und geehrt wurde. Damals war es zu einem Streit darüber gekommen, wer den Schwarzen Stein wieder einsetzen darf, nachdem er für Renovierungsarbeiten herausgenommen werden musste. Jeder der beteiligten Stämme wollte das Recht für sich in Anspruch nehmen und es entstand ein handfester Streit, wer am respektvollsten galt, diese ehrenvolle Aufgabe ausführen zu können.

Man zog Mohamed beratend hinzu, der den Vorschlag machte, den Stein auf ein Tuch zu legen, welches an jedem Ende von einem Vertreter genommen und so zur Kaaba hin bewegt werden sollte. Da alle mit dem Vorschlag einverstanden waren, entschied man, dass Mohamed den Stein persönlich an seinen Platz setzen sollte, was auch geschah.

Der Mensch

Als Empfehlung wird in Sure 2, Vers 198 angegeben:
"Die Monate für die Pilgerfahrt sind wohl bekannt; wer also beschließt, die Pilgerfahrt dann zu vollziehen: keine sinnliche Begierde, keine Übertretung, noch irgendein Streit während des Pilgerns!"

Der soziale Aspekt der Hadsch ist Ausdruck für die islamische Vorstellung von Gemeinschaft. Die Gläubigen begeben sich auf diese Fahrt ohne Unterschied ihrer Rasse, Sprache, Nationalität oder ihres gesellschaftlichen Hintergrundes. Alle sind gleich gekleidet und unterliegen den gleichen Pflichten. Millionen von Menschen beten und bitten gemeinsam. Gemeinsam wandern sie die vorgeschriebenen Strecken, rasten sie und gemeinsam verbringen sie die Nächte in der Wüste im Zelt oder im Freien.

Auch wenn es zwischen den Pilgern Unterschiede gibt – der eine übernachtet in einer luxuriösen und der andere in einer einfachen Unterkunft, der eine ist in teuren und der andere in billigen Stoff gekleidet –, so bildet sich doch eine starke Gemeinschaft unter den Gläubigen. Und das immerhin für zehn Tage im Jahr – und seit ungefähr 1.400 Jahren.

Die Vergebung

Ein beliebtes Diskussionsthema ist die Frage nach der Sündenvergebung. Der Prophet sagte: "Derjenige, der die Pilgerfahrt unternimmt und sich keiner Unanständigkeit oder Schlechtigkeit hingibt, wird so sündenlos sein wie ein neugeborenes Kind." Jedoch muss im Islam jede Tat mit der entsprechenden Absicht einhergehen. Im weiteren Wortlaut heißt es in Sure 2, Vers 198:
"Und was ihr Gutes tut, Allah weiß es. Und verseht euch mit der (notwendigen) Zehrung; aber wahrlich, die beste Zehrung ist Rechtschaffenheit."

Für das Verständnis von Vergebung werden drei Beziehungsebenen unterschieden: Die Beziehung zwischen der Person und seinem Selbst, die Beziehung zwischen der Person und Gott und die Beziehung zwischen der Person und anderen Personen. Fehltritte in den ersten zwei Kategorien werden auf der Hadsch vergeben, nicht jedoch die dritte. Es bleiben die Rechte bestehen, die andere Personen über uns haben. (Anm. 3)

Um überhaupt Vergebung erwarten bzw. erbitten zu können, sind drei Voraussetzungen erforderlich: Erstens muss die Sünde sofort unterlassen werden, zweitens muss derjenige die Verantwortung für seine eigenen Fehler übernehmen und die Schuld niemand anderem zuweisen, und drittens muss der Gläubige Gott versprechen, das Unrecht nie wieder zu begehen. Der Platz, an dem dies geschehen soll, ist das Herz. Auf der Hadsch ist man diesem Platz, dem Herzen, sehr nahe. In Sure 22, Vers 32 steht:
"Das ist so. Wer die göttlichen Riten hoch ehrt (und die dazugehörigen Opfertiere wählt), drückt Frömmigkeit des Herzens aus."

Das Tier

Am 10. Tag der Pilgerreise wird ein Tieropfer dargebracht. Dies geschieht in Erinnerung an die Prüfung, die Gott Abraham auferlegte, indem er von ihm verlangte, seinen Sohn für ihn zu opfern. Abraham wollte dieser Forderung nachkommen, obwohl der Teufel drei Mal versuchte, ihn von seinem Vorhaben abzubringen (daher rührt das Ritual des Steinewerfens an den Satanssäulen). Erst in letzter Minute erließ Gott dieses Opfer und es wurde in ein Tieropfer umgewandelt.

Im Koran wird in der Sure 'Al Hadsch' (22) sehr viel über die Opfertiere gesprochen. Vom Tier selbst wird als 'Nutzmittel' gesprochen und ihm damit sein Platz in der Beziehung zum Menschen zugewiesen. Der Mensch wird als der Nutzende angesehen, der durch das Einhalten der Riten seine Gottesehrfurcht ausdrückt.
Unter anderem heißt es in Sure 22, Vers 34; 35; 37; 38:
"In ihnen (den Opfertieren) sind Vorteile für euch auf eine bestimmte Frist, darin aber ist ihr Opferplatz bei dem Altehrwürdigen Haus";
"Und für jedes Volk gaben Wir Anleitung zur Opferung, dass sie des Namens Allahs gedenken für das, was Er ihnen gegeben hat an Vieh...";
"Und unter den Zeichen Allahs haben Wir für euch die Opferkamele bestimmt. An ihnen habt ihr viel Gutes. So sprechet den Namen Allahs über sie aus, wenn sie gereiht dastehen. Und wenn ihre Seiten niederfallen, so esset davon und speiset den Bedürftigen und den Bittenden. Also haben Wir sie euch dienstbar gemacht, dass ihr dankbar seiet";
"Ihr Fleisch erreicht Allah nicht, noch tut es ihr Blut, sondern eure Ehrfurcht ist es, die Ihn erreicht. Also hat Er sie euch dienstbar gemacht, dass ihr Allah dafür preiset, dass Er euch geleitet hat... "

Die Rede

Jedes Jahr wird die Rede, die der Prophet Mohamed am Berg Rahmat (Gnade) gehalten hat, vor den Pilgern feierlich wiederholt. Berühmt wurde sie als 'Testamentsrede', da der Prophet drei Monate später verstarb. Vor 140.000 Muslimen erinnerte er an die wesentlichen Grundlagen des Islam:

  • der Glaube an den Einen Gott ohne Bilder und Zeichen,
  • die Gleichheit der Gläubigen ohne Unterschied der Rassen und Klassen,
  • der Schutz für die drei fundamentalen Rechte aller Wesen: Leben, Gut und Ehre,
  • die Abschaffung der Zinsen, auch der nichtwucherischen,
  • die Abschaffung der nie endenden privaten Gerichtsbarkeit,
  • die bessere Behandlung der Frauen (Anm. 4),
  • die Verteilung und der dauernde Kreislauf der Reichtümer, ohne ihre Anhäufung in den Händen einer kleinen Gruppe (Anm. 5),
  • die Bekanntgabe des Willen Gottes als einziges Gesetz für jedermann und in allen Bereichen des Lebens.
Anmerkungen:
    • Anm. 1 
      Im Islam werden Geldangelegenheiten sehr sensibel behandelt. Zum Beispiel soll keinerlei Abmachung getroffen werden ohne schriftliche Niederlegung oder ohne dass zwei Zeugen anwesend wären. Ein Hadith (Ausspruch des Propheten) lautet: "Kein Moslem sollte länger als drei Tage ohne Testament sein."
      Daraus folgend erklärt sich auch, warum es hier so wichtig ist, alles stehen und liegen zu lassen und zu einer Beerdigung zu eilen. Zwar nicht nur, aber doch auch, um eventuell ausstehende Rechnungen auszugleichen. Man kann es erleben, dass die Angehörigen ganz direkt fragen, ob der Verstorbene noch Geld zurückzuzahlen hat, und wenn es sich nur um Pfennigbeträge handelte. Andererseits kann es auch sein, dass der Verstorbene Geld verliehen hat, von dem die Angehörigen nichts wissen. Da sie ein Recht auch auf diese Hinterlassenschaft haben, sollte es im Testament festgehalten worden sein. Dies ist eine Pflicht des Hinterlassenden, denn von dem Moment seines Todes geht diese an seine Angehörigen weiter, sofern er nicht verfügt, dass dies Geld in seinem Todesfall erlassen werden soll.
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    • Anm. 2 
      Rein von der Übersetzung her ist es schwer dies nachzuvollziehen. Dazu sind sicherlich Rechtsgelehrte notwendig, die ein größeres Wissen besitzen.
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    • Anm. 3 
      Oft hört man den Satz: 'Er macht die Pilgerreise, bekommt alles vergeben, aber wenn er zurück ist, betrügt er fleißig weiter'. Betrug an anderen Personen wird nicht mit der Hadsch vergeben. Auch für die Vergebung dieser dritten Kategorie gibt es eine Anleitung; näher auf sie einzugehen, würde aber den Rahmen dieses Beitrags übersteigen.
      Wie schon weiter oben erwähnt, ist die Rechtschaffenheit im Islam ein wichtiger Aspekt. Für die Hadsch wird im Koran nochmals extra daran erinnert. Von einer 'automatischen Vergebung' kann also keine Rede sein, solange sich im Herzen, dem Platz der Rechtschaffenheit, anderes befindet als Reue und der Wunsch zur Besserung.
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    • Anm. 4 
      Dieses Thema macht einen großen Teil der gesamten Rede aus.
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    • Anm. 5 
      Gesetz über Erbschaften und Nachlässe.
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Allah ist auch der Gott der Christen
Die Mediensprache verrät viel über Vorurteile gegen den Islam

von Clemens Oswald

Papyrus-Logo Nr. 5—6/97, pp. 64—66

"Gineeh wa nuss, inscha'allah" sagt der Kioskverkäufer in Mohandessin und gibt mir lachend die Flasche Mineralwasser, die ich bei ihm kaufe. Die verlangten eineinhalb ägyptische Pfund wandern von meiner Hand in seine. Ein alltäglicher Vertragsabschluß in Ägypten.

Das wäre alles nicht so aufregend, wenn ich nicht die eineinhalb Pfund schon in der Hand gehalten hätte und die Frage nach dem Preis eigentlich nur noch Bestätigung suchte. Inscha'allah – so Gott will – sagt er, obwohl er genau die beiden Scheine in meinen Händen sieht. Hat der Verkäufer etwa Zweifel an der Übergabe des Geldes? Sollte in den Sekundenbruchteilen davor noch etwas passieren können? Ein Blitzschlag aus heiterem Himmel? Ein Straßendieb, der die kleine Summe als Anlaß für einen Wettlauf nehmen könnte? Wie auch immer, denke ich, es ist ja nur eine Floskel und lächle den Verkäufer an, als ich ihm das Geld gebe. Dabei fällt mir an seinem Handrücken das tätowierte Kreuz auf, das hier die koptischen Christen tragen. Inscha'allah?

Diese häufigste Redewendung auf den Straßen Kairos wird ganz offenbar nicht nur von Muslimen verwendet. Auch Christen berufen sich – wie die Muslime meist unbewußt – auf Gott, um ihrer Hoffnung auf den erfolgreichen Abschluß irgendeiner Angelegenheit oder eines Geschäftes Ausdruck zu geben. Inscha'allah ist Sprachgebrauch, wie auch die Formulierung "ilhamdullilah" ("Gott sei Dank"), mit der sich Kopten wie Muslime gleichermaßen über glückliche Geschicke freuen.

Als Abendländer hören wir das in beiden Redewendungen benutzte Wort "Allah" sehr häufig. Meist fällt es jedoch nicht im direkten Austausch mit Muslimen, sondern in den Medien. Ein auffälliges Beispiel sind Berichte im "Spiegel" über die islamische Welt. Man kann nicht häufig genug betonen, daß "Allah" in der Übersetzung nichts anderes als "Gott" bedeutet. Es handelt sich dabei nicht um irgendeinen Gott, sondern nach Auffassung der Muslime den einen, gleichen Gott, an den auch die Christen und Juden glauben, nur daß der Ausdruck im Arabischen einfach anders ist. Engländer glauben auch nicht an "God", Franzosen an "Dieu", sondern eben an Gott.

Doch die übliche Berichterstattung – nicht nur im "Spiegel" – verzerrt diese ursprüngliche Bedeutung. Aus welchen Motiven auch immer: Werden islamische Geistliche interviewt oder wird über die sogenannten Fundamentalisten berichtet, findet das Wort "Allah" Verwendung. Sie sind die Anhänger Allahs, einer uns fremden Gottheit, während verwestlichte Muslime, auch wenn sie sich klar zum Islam bekennen, an "Gott" glauben. So geschehen etwa im Fall von Imram Khan, dem Ex-Cricketspieler und Playboy, der in Pakistan an die Macht gelangen wollte und scheiterte ("Der Spiegel" Nr. 5/97).

Das Schema spiegelt sich auch auf dem deutschen Buchmarkt wider. Beispiele aufzuzählen ist müßig, da sogar ein anerkannter Wissenschaftler wie der Göttinger Politikprofessor Bassam Tibi, selbst muslimischer Herkunft, seinen Namen unter einen reißerischen Buchtitel setzte. "Im Schatten Allahs" erinnert stark an Peter Scholl-Latours "Allah ist mit den Standhaften".

Es mag dahingestellt bleiben, ob die Titel aus Überzeugung gewählt wurden oder schlechtweg im Hinblick auf den Verkaufserfolg. Tatsache ist, daß damit eine öffentliche Wirkung erzeugt wird, die mit denen der Bücher von Karl May zu vergleichen sind. Wie gern sind wir doch Kara Ben Nemsi auf seinem Hengst in die Wüste gefolgt und haben seinen Erklärungen über den Koran gehorcht. Schließlich wußte der sächsische Tausend(undeins)sassa scheinbar alles über die Religion der Einheimischen, sprach noch dazu perfekt ihre Sprachen und wurde deswegen bewundert. Auch von uns natürlich.

Nun mögen Gegenargumente schallen. Sogar viele Muslime benutzten das Wort "Allah" in Übersetzung. Das ist grundsätzlich richtig. Sogar die Al Azhar-Universität in Kairo, bei der Nichtmuslime durch Aufsagen der "Schehada", des islamischen Glaubensbekenntnisses, zum Islam übertreten, ist nicht ausgenommen. Sie umrandet das offizielle Zertifikat in englischer Sprache sogar ausdrücklich mit dem Wort "Allah", wohl um den Segen "Allahs" besonders klar zu machen. Hier handelt es sich um einen typischen Ausdruck der moralisch-ethischen Weltsicht vieler Muslime, die sich mit der Betonung "ihres" Glaubens vom häufig als gottlos empfundenen Westen abzugrenzen suchen.

Das ist freilich alles kein Grund, das Wort weiter fehlleitend zu gebrauchen. Der Harvard-Professor Samuel Huntington soll schließlich nicht Recht behalten mit seiner Prophezeiung eines "Kampfes der Kulturen". Yassir Arafat benutzte in seinem jüngsten Interview auf dem amerikanischen Nachrichtensender CNN kürzlich das Wort "Gott" statt "Allah". Entertainer Larry King, der Arafat mit einem freundlichen "Schalom" begrüßte und verabschiedete, staunte nicht schlecht, als Arafat ihm vor laufender Kamera erklärte, daß ein guter Moslem als erstes an das Christen- und Judentum glauben muß. Der sonst souveräne King rückte danach scheinbar verständnislos auf dem Stuhl hin und her, um alsbald zum nächsten Thema zu wechseln. Arafats Antwort galt der Frage, ob sich die israelisch-palästinensische Annäherung im Nahen Osten mit dem "Islam" vereinbaren ließe.

Solche Naivität findet sich auch in deutschen Medien. Moderatorin Britta von Lojewski durfte in einer RTL-Fernsehsendung zum Thema Buddhismus über den Gebetsrufer in islamischen Ländern herziehen, der das erste Mal bei Sonnenaufgang aufs Minarett steigt: "Kein Wunder, daß die da so schlecht drauf sind". Dieser Kommentar zeugt nicht nur von Intoleranz, sondern bestätigt obendrein das Vorurteil, daß es sich beim Islam um die "kämpferischste aller Weltreligionen" handelt ("Der Spiegel"). Unter Ausblendung der Kreuzzüge oder des Nordirland-Konflikts und ohne genaue Kenntnis der fremden Religion wird nicht selten auf "die da unten" verwiesen, deren Glauben rückständig und ahnungslos ist. Klar ist: Wer wirtschaftliche Not leidet, ist einfacher durch gefährliche Interpretationen der Religion zu beeinflussen, nicht nur weil er Halt sucht, sondern weil er von vornherein keine differenzierte Bildung genießt. Dieses sozioökonomische Phänomen der Religion anzukreiden, ist unfair und dient in seiner Falschheit allenfalls dem Aufbau eines Feindbildes. "Wer Extremisten als Fundamentalisten bezeichnet, unterstützt sie damit noch, weil er ihnen nachsagt, daß sie die Fundamente der Religion vertreten", sagt der ägyptische Richter Said el Ashmawi, der im Islam keine Basis für Gewaltanwendung und nicht einmal einen fundamentalen Unterschied in der Sicht der Menschenrechte ausmacht. Ashmawi beruft sich wohlgemerkt auf den Geist des Korans, nicht notwendig dessen genauen Wortlaut. Die gedanklichen Fundamente des Islam von seiner teils blutigen Geschichte und Gegenwart zu trennen wäre nicht nur Sache verantwortungsbewußter Medien, sondern auch des Geschichts-, Sachkunde- und Religionsunterrichts. Das Trugbild des "haßerfüllten Mohamedaners" – so nennen sich die Muslime nun wirklich nicht – gilt es mit mehr Einsicht zu bekämpfen.

Letztlich sollte der eine oder andere Ferntourist auch einmal die Gelegenheit wahrnehmen, über die getönten Glasscheiben des klimatisierten Importbusses hinauszublicken. Es gibt sicher viel unverständliche, oft traditionell geprägte Ansichten zu entdecken, sei es über den Schleier, die Unreinheit von Hunden oder den "bösen Blick". Es wird sich aber auch die tiefe Hingabe ("der Islam") der Menschen an ihren Glauben zeigen, vor allem an den Frieden als oberstes Prinzip. In Ägypten ist es vor allem dieser tiefe Glaube, der die Menschen zum Durchhalten bringt und sie vom "Griff zu den Schwertern" abhält. Sicher gibt es hie und da blutige Zwischenfälle, auch gegen Andersgläubige. Sicher hat auch die Frau in der traditionellen Gesellschaft ein ganz anderes Selbstverständnis und sicher mag religiöse Ideologie dabei als Faktor eine Rolle spielen. Doch der erhobene Zeigefinger ist unangebracht. In Deutschland wären bei Wirtschaftsproblemen wie in Ägypten schon lange Fensterscheiben zersplittert, hätte der Pöbel Polizisten oder "andersartige" Menschen in weit größeren Ausmaße gehetzt. Auch in Europa haben Frauen außerdem faktisch nicht die gleichen Chancen wie Männer. Doch keiner kommt daher und sagt: Das liegt am Christentum. Vielleicht werden wir eines Tages unseren begrenzten Horizont mit besserer Wortwahl überschreiten. Inscha'allah.

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Unfrieden um den Friedenspreis – Abgesang auf eine Debatte 
von Dr. Thomas Scheben

Papyrus-Logo Nr. 1—2/96, pp. 67—73

Im Märchen bekommt die Prinzessin ihren Prinzen und alles wird gut, das wirkliche Leben ist meist nicht so freundlich. Doch im Falle Annemarie Schimmel machte es eine Ausnahme: Wie in der orientalischen Welt von 1001 Nacht überstand eine zierliche, kleine Frau die Anfeindungen mächtiger Gegner und konnte schließlich die Trophäe nach Hause tragen: Sie erhielt nicht nur den Friedenspreis des deutschen Buchhandels, sondern konnte sich auch an der Laudatio des leibhaftigen Staatsoberhauptes erfreuen. Was dem vorausgegangen war, bezeichnete Bundespräsident Roman Herzog in besagter Rede mit vornehmer Zurückhaltung als "wahrlich kein Ruhmesblatt".

An sich wird die 73jährige Orientalistin selbst unter ihren meist recht polyglotten Kollegen als Sprachgenie betrachtet. Kaum 19 Jahre alt, hat sie im Fach Arabistik promoviert, sie beherrscht fünf weitere orientalische Sprachen zur Übersetzungsreife und hält ihre Vorlesungen, sei es in der Türkei, sei es in Pakistan natürlich in der Landessprache. Die geläufige Kenntnis der wichtigsten alten und modernen europäischen Sprachen wird in diesem Fach als Selbstverständlichkeit hingenommen und gar nicht erwähnt. Auch hat sie nicht nur als übersetzende und interpretierende Mittlerin zwischen Orient und Okzident gewirkt, sondern auch unter den einander sprachlich und kulturell oft sehr fernstehenden Kulturen der islamischen Welt gedolmetscht und Brücken gebaut. Übersetzungen eines ihrer Lieblingsdichter, Muhammed Iqbal, hat sie beispielsweise vom pakistanischen Urdu ins Türkische angefertigt.

Die nach allen Seiten abgewogene, konturlose Formelsprache der politischen Medienöffentlichkeit, von Niklas Luhmann "Lingua Blablativa" getauft, beherrscht die sonst so ausdrucksstarke Gelehrte indes nicht. Nach Bekanntgabe der Friedenspreisvergabe rutschten ihr in einem "Tagesschau"-Interview ein paar nicht hinreichend er-, aus- und abgewogene Äußerungen heraus. Die stets aufmerksamen Wächter der politischen Moral witterten einen neuen Skandal, ein Opfer, das man bloßstellen und zugrunde richten, den eigenen Ruf als Tugendwächter aber daran aufrichten konnte. Wie auf Knopfdruck oder Schlüsselreiz setzte sich die ebenso routinierte und perfektionierte wie monotone und unbarmherzige Moralerhaltungsmaschinerie in Bewegung. Es dauerte ein Weilchen, bis das mit über achtzig Titeln recht umfangreiche Buchwerk durchgekämmt war und man einige aus dem Zusammenhang gerissene Zitate präsentieren konnte, um die vermeintliche Unwürdigkeit der Friedenspreisträgerin zu belegen. Dabei kümmert man sich dann nicht weiter um Gegenargumente, sondern deckt das Ziel mit einem Hagel von Vorwürfen ein, die es nicht mehr so schnell entkräften kann, wie sie erhoben werden. Verfälschungen und Verdrehungen werden dann irgendwann nicht mehr wahrgenommen, und schließlich bleibt genug hängen, um das Opfer zum Aufgeben zu zwingen.

Angeregt wurde die Kampflust der Ritter von der gerechten Moral noch, als Bundespräsident Roman Herzog ankündigte, bei der traditionellen Verleihung des Preises im Rahmen der Buchmesse die Laudatio auf Annemarie Schimmel zu halten. Bisher hatte der CDU-Politiker im höchsten Staatsamt eine so glänzende Figur gemacht, daß selbst das linke Meinungsestablishment ihm die Anerkennung nicht verweigern konnte. Jetzt, so schien es, konnte man endlich wieder einen Christdemokraten aufs Korn nehmen und über die Kritik an der Preisträgerin treffen: Entweder mußte er sich dem Druck beugen und seine Zusage zurücknehmen oder sich für den Rest seiner Amtszeit die Schelle eines Verteidigers einer Sympathisantin des Ayatollah Chomeini umhängen lassen. Zuerst lief alles in den gewohnten Bahnen. In den bekannten Medien wurden Artikel veröffentlicht, ein reichlich obskurer Verlag koordinierte den Protest von Mitgliedern des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, um dessen Stiftungsrat zur Aufhebung der Preisverleihung zu nötigen. Die mit einhundert Namen recht vollzählige Riege der üblichen Unterzeichner, von den Herren Giordano, Grass und Wallraff über Dieter Hildebrandt bis zu Alice Schwarzer und Lea Rosh, forderte in einem offenen Brief "Herr Bundespräsident, setzen Sie ein Zeichen für Demokratie und Menschenrechte – und nicht dagegen. Überreichen Sie diesen Preis nicht." Als der erfrischend zeitgeistresistente Konservative Roman Herzog sich dem üblichen Ritual nicht fügte und seine Zusage bekräftigte, wurden noch einmal schwerere Geschütze aufgefahren – das größte Kaliber verschoß Henrik Broder, der die einfühlsame Übersetzerin der Poesie mystischer Gottesliebe in eine Reihe mit den intellektuellen Apologeten Hitlers und Stalins postierte. Alice Schwarzer denunzierte sie als Wegbereiterin des islamischen Fundamentalismus – ihre Fatwa hätte auch islamischen Tugendwächtern alle Ehre gemacht, auch wenn sie nur den Ruf, aber nicht die Person selbst vernichten wollte.

Die Vorwürfe gegen die Professorin waren indes derart konstruiert und an den Haaren herbeigezogen, daß sie schnell entkräftet waren, obwohl der Automatismus der Correctness-Kampagne groteskerweise auch danach noch eine Weile weiterlief. Beigetragen haben zu deren Abwehr vor allem zahlreiche Fachkollegen der Professorin aus Orientalistik und Religionswissenschaft, die sonst eher in stillen Studierzimmern als in der Öffentlichkeit wirken, sich nun aber in Leserbriefen und Solidaritätsschreiben zu Wort meldeten. Der Bundespräsident, den Frau Schimmel unlängst bei seiner Pakistan-Reise begleitet hatte, wird wohl auch die außenpolitische Dimension eines möglichen Rückziehers in seine Überlegungen einbezogen haben. In manchen Regionen der islamischen Welt, so einer ihrer Kollegen, ist Frau Schimmel "bekannter als der Papst", und so hatte man dort die Auszeichnung als ein Signal für Verständigung und Dialog gewertet. Die Türkei ergriff die Gelegenheit, Annemarie Schimmel gemeinsam mit anderen deutschen Gelehrten und Übersetzern eine Ehrung für ihre Verdienste um die türkische Literatur zu verleihen. Ein entsprechend negatives Echo rief die Kampagne gegen sie denn auch in der Presse islamischer Länder hervor – auch wenn einige davon sich in Sachen Kritik und Toleranz gegen andere Meinungen und Weltanschauungen besser erstmal zu Hause umschauen sollten.

Im Gegensatz zu deren Werk ist das Gezänk um die gelehrte Dame weniger ein Beitrag zum Diskurs zwischen Abend- und Morgenland. Vielmehr öffnet es einem ruhigeren Betrachter ein Fenster mit einem Blick auf die zerklüftete Seelenlandschaft deutscher Intellektueller und solcher, die gern dafür gehalten werden möchten. In Trümmer gesunken sind dort die stolzen Burgen einstmals unzerstörbarer Festungen von Glaube und Überzeugung. Dahin der Glaube an einen menschlichen Sozialismus und dessen schlußendlichen Sieg über die bürgerliche Gesellschaft. Kaum davon erholt, wurden die Politisch Korrekten auch aus dem neuen Paradies des Multikulturalismus vertrieben, als der "edle Wilde" die Zähne fletschte und sich anschickte, den verständnisvollen Intellektuellen in den Hordenpott zu stecken: Vielleicht hat der Zorn der interpretierenden Klasse auf die Muslime mit der Enttäuschung darüber zu tun, daß deren Extremisten nur zu deutlich machten, daß Multikulti mit ihnen nicht zu machen ist. Sichtbarer Ausdruck dessen war das Todesurteil gegen Rushdie ebenso wie die Morddrohungen gegen Taslima Nasrin. Schließlich haben sich auch viele Muslime in Europa, namentlich in England, vehement gegen Rushdie's Werk ausgesprochen und seine Bestrafung gefordert.

Wie Verrat muß es da erscheinen, daß eine Abendländerin, Wissenschaftlerin und als solche angesehen obendrein, dies zwar nicht billigt, aber versucht zu verstehen. Sie hat deutlich gemacht, daß nicht nur ein paar grausame Mullahs in ihrer Senilität einen Fehltritt begangen haben, sondern vielmehr Muslime in aller Welt sich in ihrem Glauben zutiefst verletzt fühlten. Es waren nicht nur einige "furchtbare Juristen", die dieses Verdikt gegen zwei Schriftsteller gesprochen haben, sondern eine ganze Kultur hat den Stab über sie gebrochen – aus der Sicht westlicher Autoren über schreibende Kollegen. Die aber fühlen sich zutiefst verletzt, weil ausgerechnet diejenigen, als deren Anwälte gegen Kolonialismus und Imperialismus man sich selbst verstand, ihnen über die Angriffe auf Rushdie und Nasrin eine Absage erteilten. Die islamische Welt besteht auf einem eigenen Weg, weit entfernt von den Idealen westlicher Aufklärung und Weltsicht.

Diese Verweigerung, oder besser: das Beharren auf der Religion als bestimmendem Element der höchstpersönlichen Identität findet unter westlichen Aufklärern offenbar keinerlei Verständnis mehr. Gelebte Religiosität muß all denjenigen suspekt und unheimlich erscheinen, deren historisches Gedächtnis nicht mehr zurückreicht in eine Zeit, in der auch der Westen sich seiner Wurzeln im christlichen Glauben noch bewußt war. Für sie ist das christliche Abendland kaum mehr als eine Chimäre. Das "Kruzifix-Urteil" des Bundesverfassungsgerichtes und die ihm folgende Auseinandersetzung legt Zeugnis dafür ab, wie weit sich weite Kreise des Westens schon von den eigenen kulturellen Traditionen entfernt haben. Unverständnis, ja blanken Hohn, ernteten diejenigen, die es wagten, daran zu erinnern. Bestenfalls belustigten Spott erfahren Menschen, denen Religion und Glaube noch Sinn und Identität stiften und die es wagen, die Verunglimpfung ihres Glaubens als persönliche Verletzung zu empfinden: Sie erscheinen als Relikte der Epochen vor der Aufklärung, in der die intellektuellen Hohepriester den christlichen Geistlichen die Herrschaft entrissen. Diejenigen, die daran zu rütteln wagen, verfallen nun ebenso der weltlichen Inquisition wie weiland andere Ungläubige der katholisch-klerikalen.

Annemarie Schimmel hat es gewagt, daran zu erinnern, daß es einen beachtlichen Teil dieser Welt gibt, der nicht bereit ist, sich diesem Sinnstiftungsmonopol zu beugen. Dabei hat sie nichts anderes getan, als in bester westlicher wissenschaftlicher Tradition das auszusprechen, was unter ihren orientalistischen Kollegen ohnehin unbestritten ist; ihr Fehler war nur, daß sie dies nicht bei jeder Gelegenheit mit dem Unterton beleidigter Entrüstung versehen hat, dessen sich die Politisch Korrekten in solchen Fällen befleißigen. Immer wieder wurde ihr ein Zitat vorgehalten, daß aus einer Biographie des Propheten Muhammed stammt. Darin hatte sie im Zusammenhang mit Chomeinis Fatwa gegen Rushdie darauf hingewiesen, daß "Beleidigung des Propheten seit Jahrhunderten nach den meisten islamischen Rechtsschulen ein todeswürdiges Verbrechen" ist. Sachlich hatte sie damit eine Tatsache festgestellt, in der ihre Fachkollegen nie widersprochen haben. In der Tat hatte hier nicht ein alterstarrsinniger Greis ein abstruses Verdikt gesprochen, sondern vielmehr ist ein exakter Kenner der Scharia, des islamischen Rechtes, aufgrund einer korrekten Rechtsauffassung aus islamischer Sicht zu einem juristisch nachvollziehbaren Richterspruch gekommen. Schon aus der Zeit des Propheten selbst, ebenso unter seinen unmittelbaren ersten Nachfolgern, den "vier rechtgeleiteten Kalifen", die ihn alle noch gekannt hatten, sind zahlreiche Präzedenzfälle für Todesurteile gegen Leugner und Lästerer überliefert. Entsprechend schwer fiel es muslimischen Kritikern des Urteils, ihre Ablehnung der Fatwa zu begründen. Da sich diese kaum auf den materiellen Gehalt des Urteils stützen ließ, wichen die meisten auf Argumente aus wie: die Vollstreckung der Strafe im Ausland sei rechtswidrig, oder: nur Gott, nicht Menschen, hätten das Recht, über den Glauben eines Muslims zu befinden. Als korrekte Wissenschaftlerin hat sie nichts weiter getan, als einmal mehr zwischen den beiden Kulturen zu dolmetschen, indem sie die kulturellen, historischen und juristischen Momente der emotionalen Welle, die die "Satanischen Verse" ausgelöst hatten, aufgezeigt hat. Auch auf die juristisch bedenklichen Teile des Chomeini-Urteils hat sie hingewiesen. In ihrer sonstigen Auseinandersetzung mit dem Fundamentalismus weicht sie in ihrer Analyse seiner Ursachen und möglichen Ausweitung aufgrund sozialer Ungleichgewichte und sozio-kultureller Ohnmachtsgefühle vieler Muslime gegenüber einem als übermächtig empfundenen Westen nicht von der mehrheitlichen Auffassung der meisten wissenschaftlichen und sonstigen kundigen Beobachter ab. Wenn sie eine tiefergehende Auseinandersetzung damit anderen Fachkollegen überläßt, die sich im Gegensatz zu ihr dieses Themenfeld zum Schwerpunkt erwählt haben, zeugt dies nicht von unpolitischer Naivität oder gar Zustimmung. Eher schon von einer klugen Selbstbeschränkung, die freilich nicht mehr recht in eine geschwätzige Zeit passen mag, in der jeder sich berufen fühlt, ungefragt, allgegenwärtig, ununterbrochen und über alles und jedes eine Meinung herzuplappern, und in der die bissige Mahnung des Römers Boethius "Hättest du geschwiegen, wärest du ein Philosoph geblieben" wohl nur noch Unverständnis hervorrufen würde.

Zu ihrer Beobachtung und wissenschaftlich wohl fundierten Einsicht in die Psychologie hinter der Chomeini-Fatwa steht sie; die Taktlosigkeit bei der Formulierung dieser Ansicht in der Tagesschau hat sie zugegeben. Es mutet schon reichlich seltsam an, ihr geistige Nähe zum Fundamentalismus anzuhängen, nur weil sie diesen benennt und dessen Hintergründe zu begreifen sucht – ungefähr, als wollte man dem Autor einer Studie über die Greuel der NS-Zeit nur wegen dieser Beschreibung Nazi-Sympathien unterstellen. Merkwürdig auch der Vorwurf, ihre Auffassung, Salman Rushdie habe mit seinen Äußerungen über den Propheten und seine Familie die Gefühle vieler Muslime verletzt und sei ebenso wie Taslima Nasrin kein überragender Schriftsteller, habe die Todesdrohungen der Fundamentalisten gegen beide relativiert. Schließlich sind die beiden nicht ins Visier von Extremisten geraten, weil sie schlechte Schriftsteller sind, sondern weit sie tatsächlich oder vermeintlich religiöse Tabus verletzt haben; man kann verstehen, daß viele politische Autoren das nicht gern hören. Aber der Grad politischer Verfolgung ist kein Maßstab für literarische Qualität. Frau Schimmel ist dieser Gedankenkonstruktion nicht aufgesessen. Sie kritisiert die Verfolgung von Schriftstellern als solche durchaus und engagiert sich, wie im Falle des in Ägypten verfolgten Professors Nasser Hamid Abu Zeid durchaus auch aktiv, versucht aber andererseits, ihrem Auftrag als Wissenschaftlerin gerecht zu werden, und die Hintergründe der Verfolgung zu verstehen und verständlich zu machen. Das Gleichsetzen von "Verstehen", "Verständnis haben" und "Verzeihen" ist ein in bestimmten politischen Zirkeln weitverbreitetes Phänomen. Als Wissenschaftlerin einer anderen Tradition verpflichtet, ist ihr dieser Denkreflex fremd, was aber nicht ihr Problem, sondern das ihrer Fehlinterpreten ist: "Echtes Verstehen erwächst aus der Kenntnis historischer Tatsachen und Entwicklungen; doch solche Kenntnis fehlt heute vielen", wandte sich die Preisträgerin an ihre Kritiker.

Viele Orientalisten, namentlich solche, die derzeit in den Ländern selbst die Entwicklung beobachten, haben diese Debatte mit einigem Erschrecken verfolgt. Im Grunde haben diejenigen, die gegen Frau Schimmel vom Leder gezogen haben, in mancher Hinsicht das Geschäft der islamischen Fundamentalisten betrieben. Indem man undifferenziert den gesamten Islam mit dem Fundamentalismus gleichsetzte, sekundierte man den Fundamentalisten, die genau dies für sich reklamieren. Einmal mehr sahen sich diejenigen Muslime, beileibe nicht nur Extremisten, bestätigt, die nicht müde werden, dem Westen eine grundsätzliche Feindschaft gegenüber dem Islam zu unterstellen, und viele Muslime äußerten die Ansicht, die Kampagne gegen Frau Schimmel zeige doch, daß nicht nur der Islam selbst, sondern auch jeder, der selbst als Nichtmuslim dem Islam offen und verständigungsbereit gegenübertrete, in diese Urfehde einbezogen werde. Noch ein ganz wesentliches Detail ist den Rammböcken der richtigen Moral indes entgangen: Aus den Kreisen der Fundamentalisten selbst hat sich keine Stimme zur Verteidigung der angeblichen Sympathisantin erhoben. Der Grund dafür liegt darin, daß Frau Schimmel nicht nur in vielen, sondern vor allem in ihren bedeutendsten Werken einen Islam in den Vordergrund gestellt hat, den die Orthodoxie stets mit Mißtrauen beobachtet und den der Fundamentalismus vielfach vehement bekämpft hat. Im Mittelpunkt ihres Interesses steht der Islam der Mystik, der spirituellen Innerlichkeit und der persönlichen Suche nach Gott, der die vielleicht schönsten Beispiele islamischer Dichtkunst inspiriert hat. Diese, in den unterschiedlichen Ländern ebenso unterschiedlich ausgeprägte Bewegung ist der eigentliche innerislamische Gegenpol gegen den dürren religionsrechtlichen Legalismus von Orthodoxie und Fundamentalismus. Kaum ein Orientalist wird Annemarie Schimmel in der Auffassung widersprechen, daß es sich bei dem heutigen Fundamentalismus im Grunde um eine politische Ideologie unter religiösen Vorzeichen handelt, die lebendige Religiosität sich aber weit eher in den zahlreichen Formen der mystischen Gemeinschaften, bei uns häufig unter Sammelbegriffen wie Derwische, Fakire oder Sufis zusammengefaßt, ausdrückt. Viele dieser "islamischen Freidenker" wurden – und werden – unterdrückt und manchmal getötet. Zu Recht sah sie vor diesem Hintergrund, daß aufgrund der Kampagne gegen sie "Lebenswerk und Leben zerstört schienen", nämlich das Werk der Verständigung, für die sie ein halbes Jahrhundert gelebt habe.

Um Kontakte mit anrüchigen Regimen kam sie dabei indes ebensowenig herum wie jeder andere, der in diese Länder reisen will. Das richtige Maß für Distanz und Nähe ist oft nur schwer zu finden, aber sie hat auch immer wieder Mut bewiesen, indem sie Kontakt zur Opposition hielt und demonstrativ die Familie ihrer Schülerin und Freundin Bennazir Bhutto, heute Pakistans Premierministerin, besuchte, als deren Vater Zulfikar Ali Khan Bhutto 1979 hingerichtet und seine Familie geächtet wurde. Auf derartige Akte der Solidarität gegen Unfreiheit im Sozialismus seitens der linken Literaturschickeria haben verfolgte Autoren wie Solschenizyn, Havel und Havemann seinerzeit vergeblich gewartet, und auch das Engagement für den nun so demonstrativ auf den Schild gehobenen Salman Rushdie war seitens der deutschen Autoren, Verleger und Buchhändler ganz im Gegensatz zu deren englischen und amerikanischen Kollegen mehr von Zaghaftigkeit als von Zivilcourage gekennzeichnet. Der rachsüchtige Ayatollah freilich war auch gefährlicher als die friedfertige Professorin, an der man nun weniger riskant nachholen konnte, was man damals an demonstrativer Aktion lieber versäumt hatte.

Den schließlichen Beweis, daß Annemarie Schimmel in ihrem Denken und Fühlen liberalen westlichen Werten indifferent und ablehnend gegenüber stehe, blieben ihre Gegner schuldig. Auf Worte des Eingeständnisses oder gar der Reue seitens der gnadenlosen Inquisitoren einer selbstgestrickten Moral wird sie vergeblich warten können mit der bemerkenswerten Ausnahme von Daniel Cohn-Bendit, der sich überzeugen ließ und von seiner ursprünglichen Kritik abrückte. In ihren Reden zur Friedenspreisverleihung haben sowohl Preisträgerin als auch Laudator indes darauf verzichtet, ihren Sieg auszukosten. Knapp befand Roman Herzog, "daß political correctness keine legitime Schranke der verbürgten Meinungsfreiheit sein kann." Leise nur mahnte Annemarie Schimmel ihre unversöhnlichen Gegner zu einem vorsichtigeren Umgang mit der Macht der Öffentlichkeit: "Das Wort ist das dem Menschen anvertraute Gut, das er behüten soll, und das er nicht, wie es so oft geschieht, abschwächen, verfälschen, zu Tode reden darf: denn es besitzt Kräfte, die wir nicht abschätzen können." Im übrigen widmeten sich beide Redner dem weit wichtigeren Thema der Auseinandersetzung mit der islamischen Welt.

Insofern mag denn auch einer der positiveren Aspekte der gesamten Kampagne darin zu sehen sein, daß darum – und bisweilen auch darin – mehr über den Islam selbst und unser Verhältnis dazu diskutiert wurde, als in vielen Jahren davor. Es wäre wünschenswert, wenn daraus, sobald das Feldgeschrei verklungen ist, eine ernsthafte Auseinandersetzung entstehen könnte. Diskutabel sind Wahrnehmung und Auffassung des Westens vom Islam, sein Umgang mit dieser Kultur und seine Haltung zu dessen Werten und Erscheinungsformen allemal, und im Rahmen einer solchen Diskussion steht durchaus auch die Herangehensweise von Annemarie Schimmel auf dem Prüfstand; in ihrer Rede in der Paulskirche hat sie diese noch einmal klargestellt. Sie steht in der Tradition des romantischen Orientalismus, mit dem in Deutschland die Namen Goethe und Rückert verbunden sind, und ist gegenwärtig wohl deren bedeutendster Erbe. Im Gegensatz zur kolonialistischen Orientalistik, namentlich in England und Frankreich, ist dieser Zweig der Islamforschung in der muslimischen Welt auch noch durchaus angesehen – nicht umsonst hat man Goethe und Schimmel in Pakistan mit der Benennung von Straßen nach ihnen geehrt. Diese Tradition ist Teil eines wissenschaftlichen Historismus, der alle Völker und Kulturen aus sich selbst heraus und damit grundsätzlich als gleichwertig verstehen will. In logischer Folge kommen ihnen allen die gleichen Rechte zu.

Der Schritt von dieser Haltung in einen weitgehenden Kultur- und Werterelativismus ist klein, und entsprechend fein muß die Grenze immer wieder neu gezogen werden. Eines jedoch ist ganz sicher: Er ist das genaue Gegenteil von Fundamentalismus, denn er verzichtet gänzlich auf die Einmischung in andere Wertesysteme und ist weit davon entfernt, eigene Wertesysteme anderen aufzwingen zu wollen. Umso überraschender ist es, daß sich unter Annemarie Schimmels Kritikern auch Leute vom Schlage eines Daniel Cohn-Bendit befinden, die in Deutschland als Multikulturalisten gerade jenem Werterelativismus das Wort reden, den sie an der Preisträgerin bemängelt haben. In jedem Falle aber stellt er sicher ein geeignetes Instrument zur Führung eines einigermaßen konfliktarmen Dialoges zwischen den Kulturen dar.

Der Konflikt ist aber in dem Moment unvermeidlich, in dem eine Seite ihre Werte als universal gültig ansieht und deren Akzeptanz von der anderen fordert. Die Weise, in der Fundamentalisten jedweder Couleur dies tun, ist indiskutabel. Aber auch der Westen ist davon nicht frei. Für ihn ist der Prüfstein die Wahrung der Menschenrechte, und nicht zuletzt deren Verletzung gegenüber Salman Rushdie und Taslima Nasrin seitens islamistischer Kräfte, aber auch die generellen Vorbehalte des islamischen Rechtes gegenüber den Menschenrechten haben scharfe Reaktionen in der westlichen Welt ausgelöst. Für die Erben der antiken und christlichen Traditionen sind diese Werte von universaler Gültigkeit, was in zahlreichen internationalen Konventionen festgeschrieben wurde. Dabei wird allzu häufig übersehen, wie stark diese Werte eben in dieser spezifischen Tradition wurzeln, und damit gerade nicht universal, sondern kulturbedingt sind. In den letzten Jahren beharren demgegenüber nicht nur Muslime, sondern auch die Kulturen Ostasiens verstärkt auf dem Recht einer eigenen Interpretation und Gewichtung der Menschenrechte. Seltsamerweise sind es nun gerade dieselben Kreise, die in der innenpolitischen Diskussion der vergangenen Jahrzehnte den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes als "rein formale Werte" abqualifiziert haben, nun aber gegenüber der islamischen Welt in einen regelrechten universalistischen Menschenrechtsfundamentalismus verfallen sind.

Eine Basis für Dialog und Verständigung ist das eine so wenig wie das andere. In einem konsequenten Werterelativismus gibt es keinen Streit, da es nichts gibt, worüber man streiten könnte: Der jeweils andere wird so akzeptiert, wie er eben ist. Macht man die Übernahme des westlichen Menschenrechtsverständnisses zur Prämisse eines Dialogs, wird die andere Seite ihn von vorneherein verweigern. Beides, das konfliktfreie Verständnis für andere Kulturen und das bedingungslose Eintreten für Menschenrechte, wird wohl nicht zu haben sein. Annemarie Schimmel hat sich als Partner ihres Dialoges jene undogmatischen mystischen Glaubensrichtungen gewählt, die sich in ihrer ganzen Geschichte noch als die tolerantesten und humanitärsten erwiesen haben. Zwar insistiert sie, daß "Akzeptanz des Gegenübers die Grundlage des Dialogs" sei. Daß der extremistische Fundamentalismus eine totalitäre politische Ideologie ist, die sogar im Koran verankerte Gebote im Bedarfsfalle beiseite schiebt, ist ihr dabei keinesfalls entgangen. Als kluger Richter, der er bis vor kurzem war, hat Präsident Herzog versucht, ein Urteil zu fällen, daß zwischen den widerstreitenden Parteien eine Brücke schlägt, über die zukünftiges Miteinander wieder möglich ist. Zwar erklärt er Grundrechte und Freiheiten für unabdingbar, nimmt aber auf der Seite des Islams eine Differenzierung vor, die das Gespräch mit dessen moderaten Kräften ermöglicht: Die überall gültige goldene Regel "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andren zu", will er als Grundlage eines Dialoges verstanden wissen, und vertraut auf die gemäßigten Mehrheiten der Völker, die an einem Kampf der Fundamentalismen kein Interesse haben.

Meist hinterlassen Debatten wie die um Annemarie Schimmel einen bitteren Nachgeschmack. Die Standhaftigkeit der Professorin, die nicht auf die Ehre, und die des Präsidenten, der nicht auf die Ehrung verzichteten, haben die erbarmungslosen Tugendwächter der political correctness in die Schranken gewiesen. Für die Kultur des politischen Diskurses in Deutschland läßt dies hoffen. Sollte dazu ein intensiverer Dialog über unsere Haltung zu fremden Kulturen und Gesellschaften eröffnet und auch das Gespräch mit ihnen selbst mit neuen Impulsen versehen worden sein, wäre die Ehrung in der Paulskirche, Stätte der ersten demokratisch geführten Auseinandersetzungen in Deutschland, nicht nur Anerkennung für Lebensleistung einer großen Gelehrten, sondern Fortsetzung dessen, dem sie ihr Leben gewidmet hat: Dem Versuch des Verstehens von scheinbar Unverständlichem.

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Jesus und Maria im Islam 
von Heidrun von Boetticher

Papyrus-Logo Nr. 11—12/98, pp. 4—8

Engel kamen zu Maria und redeten zu ihr:
O Maria, Gott hat dich auserwählt und rein gemacht, dich vor den Frauen der ganzen Welt erwählt.
O Maria, sei deinem Herrn demütig ergeben, wirf dich nieder und beuge dich mit denen, die sich beugen...
O Maria, siehe Gott verkündet dir ein Wort. Sein Name ist der Messias, Jesus, Sohn der Maria. Er wird im Diesseits und Jenseits angesehen und einer von denen sein, die in Gottes Nähe zugelassen werden. Er wird in der Wiege und als Erwachsener mit den Menschen reden und zu den Rechtschaffenen gehören.

Maria aber sagte: Woher soll mir ein Kind werden, wo mich kein Mann berührt hat?
Da antwortete der Engel: So ist es; Gott schafft, was Er will. Wenn er eine Sache beschlossen hat, sagt Er zu ihr nur "Sei!", und sie ist.
So empfing Maria Jesu und zog sich mit ihm an einen entlegenen Ort zurück.

Als die Wehen Maria überfielen, stand sie am Stamm einer Palme. Sie sprach: O daß ich doch zuvor gestorben und vergessen und verschollen wäre.
Da rief jemand unter ihr: Sei nicht bekümmert; dein Herr hat unter dir ein Bächlein fließen lassen. Schüttele nur den Stamm des Palmbaums zu dir, so werden frische reife Datteln auf dich fallen. So iss und trink und sei getrost!

Maria kehrte mit dem neugeborenen Kind in ihren Heimatort zurück, wo ihre Verwandten ihre Unschuld bezweifelten:
O Maria, du hast eine unerhörte Sache begangen. Dein Vater war kein schlechter Mann und deine Mutter keine Dirne.
Maria aber deutete auf Jesus. Sie sagten: Wie sollen wir mit einem Kind in der Wiege reden?
Da sprach Jesus: Siehe, ich bin Gottes Diener, gegeben hat Er nur das Buch. Er machte mich zum Propheten und hat mich gesegnet, wo immer ich bin. Er befahl mir, Gebet und Almosen zu erfüllen, solange ich lebe, und Liebe zu meiner Mutter. Er machte mich nicht hoffärtig und unselig. Und Friede auf den Tag meiner Geburt und auf den Tag, da ich sterbe und den Tag, da ich auferweckt werde... Gott ist mein Herr und euer Herr, so dienet ihm.
Dies ist Jesus, der Sohn der Maria – das Wort der Wahrheit, das sie bezweifeln.

(Sure 3,37ff. und 19,16 ff.) (Anm. 1)

Mit diesen Worten beschreibt der Koran Mariä Verkündigung und Jesu Geburt. Da Jesus schon in der Wiege die Unschuld seiner Mutter bezeugt, ist der Glaube an die Jungfrauengeburt auch bei den Muslimen fest verwurzelt.
Damit erkennt der Islam aber keineswegs die Gottessohnschaft Jesu im christlichen Sinne an, sondern spricht sich schon im Koran, direkt an die Geburtsgeschichte anschließend, gegen eine solche aus:

Nicht steht es Gott an, einen Sohn zu zeugen: Wenn Er etwas beschließt, so spricht Er nur "Sei!" und es wird.
(Sure 19,35)

Jesus gilt aber zum einen als großer Prophet, der letzte vor Mohammed. Der dürre Palmbaum, der plötzlich reife, süße Datteln herabschüttet, wird als göttliches Wunder gedeutet, das die Geburt eines neuen, auserwählten Gottgesandten ankündigt. Und zum anderen gilt Jesus als lebender Beweis von Gottes Schöpfermacht. Denn Gott kann ohne Mühe ein Kind ohne Vater, oder wie im Falle Adams, einen Menschen ohne Eltern erschaffen. (Sure 15,29; 38,72) Deshalb bezeichnet der Koran Jesus, der in 15 Suren und 93 Versen erwähnt wird, auch als Wort von Gott oder Geist von Gott. (Sure 3,45 u. 4,171 ) (Anm. 2)

Nie wird Jesus im Koran ohne die Beschreibung Sohn der Maria erwähnt. Sure 19 trägt als Überschrift Marias Namen. Beides zeigt die Ehrerbietung, die Jesu Mutter im Islam entgegengebracht wird. Sie ist die einzige Frau, die im Koran bei ihrem Namen genannt wird, und nach den Überlieferungen des Propheten Mohammeds gelten nur sie und Jesus als die einzigen Menschen, die bei ihrer Geburt nicht vom Teufel berührt worden sind. (Anm. 3)

Die hohe Verehrung, die Maria durch die ausführlich im Koran berichteten Geschichten ihrer eigenen Geburt und ihrer Jugend entgegengebracht wird, deutet darauf hin, dass dem Propheten vor allem apokryphe Berichte wie das Kindheitsevangelium des Jakobus (150 n.Chr.) vorgelegen haben müssen. Das Neue Testament dagegen scheint Mohammed unbekannt gewesen zu sein. Denn die christliche Trinitätslehre hat er auf Gott, Jesus und Maria (Sure 5,116) und nicht auf Gott, Jesus, Heiligen Geist bezogen.

Man konnte sich zur Zeit des Propheten in Mekka und Medina nur mangel- und bruchstückhaft über das Christentum orientieren, da sich dieses zu jener Zeit nur an der Peripherie der Arabischen Halbinsel, an den Grenzen zu den christlichen Ländern Syrien, Palästina, Ägypten, Mesopotamien und Abessinien ausgebreitet hatte.

Außerdem war die christliche Missionsarbeit auf der Arabischen Halbinsel nicht von Vertretern der Byzantinischen Kirche, sondern von Christen des monophysitischen und nestorianischen Bekenntnisses sowie christlichen Sektierern betrieben worden, durch die wahrscheinlich auch die Lehre, Christus sei nicht in eigener Person gekreuzigt worden, verbreitet worden war (Sure 4,157).

Auch wenn weder in Mekka noch in Medina eine christliche Gemeinde existierte, hat es dort immer wieder einzelne Christen, Einsiedler, Mönche und vor allem abessinische und syrische Sklaven gegeben. Diese wenigen Christen müssen mit ihrer Glaubensanschauung, ihrem persönlichen Verhalten und ihren Frömmigkeitsübungen auf ihre Umwelt und damit auch auf den Propheten großen Eindruck gemacht haben. Im Koran wird jedenfalls ihre Demut gerühmt (Sure 5,82) und von dem Mitleid und der Barmherzigkeit gesprochen, die Gott ihnen ins Herz gelegt habe (Sure 57,27). Vor allem ihre Gebetsübungen scheinen nachhaltend gewirkt zu haben. Denn Mohammed hat in das gottesdienstliche Gebet, die wichtigste der fünf Pflichten des Islams, die Verneigungen, Niederwerfungen und das andächtige Stehen vor Gott aufgenommen; ein Ritus, der im altarabischen Brauchtum bis dahin völlig unbekannt war.

Trotz der räumlichen Entfernung zu christlichen und jüdischen Siedlungen – die nächste jüdische Gemeinde in Medina war rund 300 km von Mekka entfernt – geht ein beträchtlicher Teil des islamischen Gedankengutes auf christliche und jüdische Quellen zurück. Denn sowohl der Monotheismus, die Lehre vom alleinigen, allmächtigen und allwirkenden Gott, als auch die eschatologischen Vorstellungen von der Auferstehung und vom Tag des Gerichts, an dem jedes Individuum zur Verantwortung gezogen werden wird, gehörten schon zu den Grundsätzen der beiden älteren Schriftreligionen, bevor sie Glaubensaussagen des Islams wurden. (Anm. 4)

Die hohe Wertschätzung, die Jesus und seiner jungfräulichen Mutter seit den Tagen des Propheten Mohammed im Islam entgegen gebracht wurde, schlug sich in den folgenden Jahrhunderten auch in der islamischen Literatur nieder. Mit der Ausbreitung des Islams, durch die es natürlicher Weise vermehrt zu Begegnungen zwischen Muslimen und Christen kam, fanden allmählich auch weitere Jesuslegenden und zahlreiche Sprüche Jesu aus der Bergpredigt Eingang in die großen Epen islamischer Dichter und in die lyrischen Werke persischer, türkischer, arabischer und indo-muslimischer Poeten. (Anm. 5)

So erscheint Jesus in der islamischen Literatur zum Beispiel häufig als Asket, der nur Becher und Kamm besaß und

den Becher fortwarf, als er sah, dass jemand aus der hohlen Hand trank, und den Kamm, als er sah, wie ein anderer seine Finger statt eines Kammes benutzte; der weder Speise vom Morgen für den Abend aufhob, noch abendliche Speise für den nächsten Tag;

und seinen Jüngern sagte

Schaut auf die Vögel. Sie säen nicht und sie ernten nicht... Und wenn ihr sagt: Wir haben größere Mägen, dann schaut auf das Weidevieh!
(Anm. 6)

Oder Jesus wird dargestellt als heimatloser Wanderer auf Erden, dem der Platz im Schatten einer Mauer vom Hausbesitzer streitig gemacht wird und der nicht weiß, wohin er sein Haupt legen kann:

Jesus, Marias Sohn, legt' sich zum Schlafen,
nahm einen halben Ziegelstein als Kissen;
doch als die Augen aufschlug er vom Schlummer,
sah Iblis er, den Bösen, voller Kummer.
 
Er sprach:
Verfluchter, warum stehst du hier?
Der sprach: Du legtest einen Ziegel untern Kopf!
Da mir die ganze Welt zu Lehen ist,
gehört mir dieser Ziegel, das ist klar.
Weil du dir etwas nimmst aus meinem Reich,
hast du dich auch in meinem Strick verfangen.

Und Jesus nahm den Stein und warf ihn fort
und legt' den Kopf zum Schlafen auf die Erde.
Als er den halben Ziegel ließ, sprach Satan:

Ich geh'. Du schlafe nun in Ruh' an diesem Ort.
(Anm. 7)

Immer wieder wird für Jesus in der islamischen Literatur die Metapher des Kranke und Sünder heilenden Arztes angewandt und gilt er als der im Vertrauen auf Gott stets lächelnde Prophet:

Jesus lachte viel, und Johannes weinte viel. Und sie waren Vettern. Johannes sagte zu Jesus: Du bist wohl ganz sicher gegen die feinen Tricks Gottes, dass du so viel lachst? Jesus antwortete: Du übersiehst wohl ganz die subtilen und wundervollen Gnaden Gottes, dass du so viel weinst? Einer von Gottes Freunden war anwesend. Er fragte Gott, welcher von beiden den höheren Rang habe, Gott antwortete: Derjenige, der besser von Mir denkt.
(Anm. 8)

Jesus wird in den verschiedensten Variationen beschrieben, als reiner Wanderer, als der Leuchtende und Gütige, als der große Beter oder als der die Toten Belebende. Dabei wird er immer wieder als der geschildert, der in allem und jedem stets nur das Schöne und Gute sieht. Selbst an dem verwesenden Kadaver eines Hundes, von dessen Gestank sich seine Jünger ekelnd abwenden, bewundert Jesus noch die weißen Zähne der göttlichen Kreatur. Übrigens eine Geschichte, die auch Goethe in seinen "West-östlichen Diwan" übernommen hat.

Trotz aller dogmatischer Unterschiede zwischen Christentum und Islam verehren sowohl Christen als auch Muslime Jesus und Maria. Diese Gemeinsamkeit könnte in einer Zeit, in der vermehrt versucht wird, systematisch Feindbilder zwischen beiden Religionen aufzubauen, als Grundlage eines gemeinsamen Dialogs genutzt werden, der zu gegenseitigem Respekt und ehrlicher Toleranz führt. Die Worte die im Koran und im Lukas-Evangelium zu Jesu Geburt gesagt werden, könnten dabei die Richtung weisen:

"Und Frieden auf den Tag meiner Geburt"
(Sure 19,33)
"Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen."
(Luk. 2,14)

Dass diese Toleranz im Alltag vieler Menschen gelebt wird, zeigt die von Annemarie Schimmel geschilderte Geschichte:
"Im Dorfe Noweiba im Sinai-Gebiet gibt es einen Andenken-Laden, der von einem Kopten und einem Muslim betrieben wird. Der größte Teil der Souvenirs sind Madonnenstatuen aus Holz, Glas, Plastik, die auf Glasregalen ausgestellt sind. Nach dem Erdbeben im Herbst 1995, das ziemliche Verwüstungen auch im Dorf anrichtete, stand alles in dem kleinen Laden so ordentlich, als sei nichts geschehen. Als meine Freundin [eine Ethnologin] fragte, wie das denn möglich sei, antwortete der Muslim – Sami –: 'Das ist doch klar, die Madonna hat uns geschützt. Nichts kann geschehen, wo sie ist. Sie ist die reinste der Frauen, sie hat das Wort Gottes geboren. Wir Muslime verehren sie, die Licht und Reinheit verkörpert. Sie schützt uns.'" (Anm. 9).

Ornament

Literatur:
    • Der Koran (übersetzt: Max Henning), Reclam, 1990
    • Der Koran (übersetzt: Theodor Khoury), Gütersloh, 1987
    • Schimmel, Annemarie, Jesus und Maria in der islamischen Mystik, Kösel, 1996
    • Schimmel, Annemarie, Der Islam – Eine Einführung, Reclam, 1990
    • Schimmel, Annemarie, Geist von Gott: Jesus und Maria im Islam, aus: Magazin der Frankfurter Allgemeinen, 20. Dezember 1996
    • Paret, Rudi, Mohammed und der Koran, Kohlhammer, 1991/7
    • EKD u. VELKD, Was jeder vom Islam wissen muß, Gütersloh, 1995/4
Bildnachweis: Inschrift in Flecht-Kufi, um 1236, Delhi
Anmerkungen:
    • Anm. 1 
      In den deutschen Übersetzungen des Koran stimmen Einteilung und Nummerierung der Verse innerhalb der einzelnen Suren nicht immer überein. Die Geburtsgeschichte wurde hier teilweise in der Übersetzung von A.Schimmel, Jesus und Maria, S. 144 übernommen.
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    • Anm. 2 
      A.Schimmel, Jesus und Maria, S. 11ff.
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    • Anm. 3 
      Diese Überlieferung, die von Abu Huraira berichtet wird, wurde in den Standardwerken von Buchari und Muslim als echt akzeptiert und sagt: "Satan berührt jedes Kind, das geboren wird, und wenn er es berührt, erhebt es seine Stimme und weint. Das geschah jedem Kind, außer Jesus und Maria. Lies Gottes Wort: 'Ich will sie und ihre Nachkommen gegen jeden bösen Geist schützen.'" Hier zitiert aus A.Schimmel, Jesus und Maria, S. 35.
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    • Anm. 4 
      R. Paret, S. 14 ff. u. 42 ff.
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    • Anm. 5 
      A.Schimmel nennt hier u.a. folgende islamische Schriftsteller: Wahb ibn Munabbihs (gest. 732), Al-Halladsch (gest. 922), Abu Talib al-Makkis (gest. 990), Abu Nu'aim (gest. 1037), Quschairi (gest. 1074), Hudschwiri (gest. 1071), Al-Ghazzali (gest. 1111), Sana'i (gest. 1131), Ibn Arabi (1165—1240), Khaqani (gest. 1199), Dschalaladdin Rumi (1207—1273), Fariduddin Attar (gest. 1221) und von modernen Dichtern Iqbal und Kamil Husain, die neben der Verehrung Jesu auch Kritik am praktizierten Christentum üben.
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    • Anm. 6 
      A.Schimmel, Jesus und Maria, S. 38 ff.
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    • Anm. 7 
      A.Schimmel, Jesus und Maria, S. 44.
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    • Anm. 8 
      A.Schimmel, Jesus und Maria, S. 49.
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    • Anm. 9 
      A.Schimmel, Jesus und Maria, S.173.
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Zur Legitimation von Krieg im Islam
von Shaker el-Rifai (Al-Azhar Universität Kairo)

Papyrus-Logo Nr. 1—2/2002, pp. 25—28

"Wer einen Menschen tötet, es sei denn als Sühne für einen Mord, um weiteres Unheil auf der Erde zu verhindern, dann ist es, als ob er die gesamte Menschheit getötet habe."
(Sure 5,Vers 32)

Im Islam ist das Töten eines unschuldigen Menschen wie das Töten der gesamten Menschheit. Da jeder Mensch ein feststehendes Recht auf Leben hat, ist das Töten auch nur eines einzigen Menschen ein Übergriff auf das Lebensrecht an sich, an dem alle Menschen einen Anteil haben.

In der islamischen Geschichte wurden Kriege einzig gegen andere Staaten geführt, wenn diese die Muslime an ihrer Glaubensverkündigung hinderten, sie töteten oder verfolgten. Dieser Kriegsgrund findet heutzutage keine Anwendung mehr und war nur bei der Entstehung des Islams eine praktische Notwendigkeit. Kriege galten als legitim, wenn Muslime von den herrschenden Andersgläubigen zum Unglauben gezwungen wurden. Aber zugleich sollten die Einwohner Mekkas und die Bewohner des arabischen Raumes selbst nicht gezwungen werden, den Islam oder eine andere Religion anzunehmen. Der Islam mit seinem universellen Charakter stellte sich ja die Aufgabe, freie Religionsausübung zu ermöglichen. Vorrangige Bedeutung hatte nach wie vor der Verteidigungskrieg.

Kriege sind legitim, wenn Aggressoren islamische Länder angreifen, d.h., wenn sie mit Gewalt, Verfolgung und Terror Muslime vom Verrichten ihrer religiösen Pflichten abzuhalten versuchen. Dies entspricht einer Kriegserklärung an die Religion. In diesem Sinne kann man von einem Kampf auf dem Wege Gottes sprechen. Erlaubt war dieser Kampf erst ein Jahr nach der Hidschra, der Auswanderung der ersten muslimischen Gemeinde von Mekka nach Medina.

Die Gefährten des Propheten gingen zu ihm, um sich über die Pein, die ihnen durch die ungläubigen Mekkaner zugefügt wurde, zu beschweren. Die Antwort des Propheten war jedoch immer die gleiche: "Übt euch in Geduld, denn mir ist nicht erlaubt, zurückzuschlagen." Danach wurde folgender Vers offenbart: "Erlaubt ist der Kampf denen, die bekämpft werden, weil ihnen Unrecht getan worden ist." Dies war die erste Erlaubnis zur Selbstverteidigung im bewaffneten Kampf, da die Muslime lange unterdrückt und verfolgt worden waren und somit die erste Bezugnahme im Koran auf das Problem des Krieges.

Ein Jahr später, im zweiten Jahr nach der Hidschra, wurde der Grundsatz des Kampfes in Sure 2, Vers 190—193, ausgeführt: "Und kämpft auf dem Weg Allahs gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen, doch übertretet nicht. Wahrlich, Allah liebt nicht diejenigen, die übertreten. Und tötet sie, wo immer ihr auf sie stoßt, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben, denn Verfolgung ist schlimmer als Totschlag. Doch kämpft nicht gegen sie bei der heiligen Moschee, bis sie dort gegen euch kämpfen. Wenn sie gegen euch kämpfen, dann tötet sie. Das ist die Vergeltung für die Ungläubigen. Wenn sie aufhören, so ist Allah voller Vergebung und Barmherzigkeit. Kämpft gegen sie, bis es keine Verfolgung mehr gibt und die Religion nur noch Allah gehört. Wenn sie aufhören, dann darf es keine Übertretungen geben, es sei denn gegen die, die Unrecht tun."

Kriegsführung ist daher im Islam nur als Selbstverteidigung und auch nur innerhalb klar festgesetzter Grenzen erlaubt. Wenn Krieg geführt wird, soll dies mit allen verfügbaren Kräften, jedoch nicht unbarmherzig geschehen. Es geht nur darum, Frieden und Freiheit für den Gottesdienst wieder herzustellen. Auf keinen Fall dürfen Frauen, Kinder, alte und schwache Menschen betroffen, ferner Äcker nicht zerstört werden. Die Schließung des Friedens darf nicht verweigert werden, wenn der Feind sich ergibt.

Als der erste Kalif Abu Bakr seine Armee in den Kampf entsandte, gab er ihr folgenden Befehl mit auf den Weg: "Begeht keinen Verrat und weicht nicht vom rechten Weg ab. Auch sollt ihr Kinder, alte Menschen und Frauen weder verletzen noch töten. Zerstört oder verbrennt keine Palmen und zerstört keine Obstbäume. Schlachtet weder Schafe noch Tiere anderer Herden noch Kamele, es sei denn zu eurem Lebensunterhalt. Wenn ihr bei Leuten vorbeikommt, die sich dem Klosterdasein verschrieben haben, so überlasst sie dem Leben, dem sie sich hingegeben haben."

Der Kampf auf dem Wege Gottes (gihad) dient also der Befreiung des Menschen von menschlicher Unterdrückung zum Dienst an dem einzigen Gott.

Ein Muslim setzt seine Person und sein Eigentum auf dem Wege Gottes ein, um Werte (in der Gesellschaft / Welt) zu verwirklichen, bei denen es weder für persönlichen Gewinn noch für Gier und Ehrgeiz einen Platz gibt. Der Muslim hat vor diesem Kampf bereits in seinem eigenen Inneren einen größeren Kampf (gihad) gegen den Satan angetreten: gegen seine eigenen Wünsche und persönlichen Interessen, kurz gesagt gegen alles, was ihn daran hindert, Gott allein zu dienen. Islamisch gesehen ist das ein Privileg und wer dieses Privileg richtig begreift, der opfert seine gesamten Interessen in diesem Leben und sogar dieses Leben selbst. Denn er weiß, dass er etwas Vergängliches aufgibt für etwas Ewiges. Ob er Erfolg hat oder Misserfolg, er erringt den Preis: Ehre und Ruhm bei Gott. So ist es auch gesagt in Sure 4, Vers 74: "So sollen diejenigen, die das diesseitige Leben gegen das Jenseits verkaufen, auf dem Wege Gottes kämpfen. Und wer auf dem Weg Gottes kämpft, und daraufhin getötet wird oder siegt, dem werden wir (Anmerkung: "wir" entsprechend "Allah/Gott") einen großartigen Lohn zukommen lassen."

Kampf ist und bliebt eine notwendige Ausnahmesituation. Die Lage wendet sich unmittelbar, wenn die Feinde zum Frieden neigen, Sure 4, Vers 90: "Wenn sie sich von euch fernhalten und euch nicht bekämpfen und euch Frieden anbieten, dann hat Allah euch nicht erlaubt, gegen sie vorzugehen." Oder wie auch in Sure 8, Vers 61 gesagt wird: "Und wenn sie sich dem Frieden zuneigen, dann neige auch du dich ihm zu und vertrau auf Gott."

Die grundsätzliche Regel der Beziehungen des islamischen Staates zu anderen Staaten finden wir in Sure 60, Vers 8 und Vers 9: "Allah verbietet euch nicht, euch denen gegenüber gütig und gerecht zu verhalten, die euch nicht der Religion wegen bekämpfen oder aus euren Häusern vertrieben haben. Denn Allah liebt die Gerechten. Allah verbietet euch dagegen, euch mit denen zu verbünden, die euch der Religion wegen bekämpft und aus eurer Heimstätte vertrieben und anderen geholfen haben, euch zu vertreiben. Solche, die sich mit ihnen verbünden, begehen großes Unrecht." Daher ist der Grund, warum die Muslime sich von den Ungläubigen distanzieren, nicht ihr Unglaube, sondern deren Feindschaft gegenüber dem Islam und ihr tyrannisches Verhalten gegenüber Muslimen.

Deshalb sollten Muslime zwischen feindlich und nicht-feindlich eingestellten Ungläubigen klar unterscheiden und alle gut behandeln, von denen sie nicht schlecht behandelt wurden. Das ist, wie erwähnt, die grundsätzliche Regel in den Beziehungen des islamischen Staates zu anderen Staaten. Friedliche Beziehungen sind die Regel. Dieser Zustand endet nur, wenn der islamische Staat angegriffen wird und wenn die Freiheit zu glauben und den Islam auszuüben mit Gewalt unterbunden wird. Jenseits solcher Bedingungen basiert das Verhältnis der Muslime zu allen anderen Menschen auf Frieden, Freundschaft, Wohltat und Gerechtigkeit.

Der Muslim lebt auf der Erde für seinen Glauben. Dieser Glaube ist maßgebend für sein Verhältnis zu den Menschen seiner Umgebung. Er streitet nicht um eigene Interessen und kämpft nie aufgrund von Rassismus oder Nationalismus. Noch einmal zurück zu Sure 60, Vers 8: "Allah verbietet euch nicht, gegen die, die nicht in Sachen des Glaubens gegen euch gekämpft haben, oder euch aus euren Häusern vertrieben haben, gütig und gerecht zu sein." Der Vers fordert nicht nur zu Gerechtigkeit und Fairness gegenüber Nicht-Muslimen auf, sondern er fordert die Muslime auch dazu auf, ihnen gegenüber freundlich zu sein.

Der arabische Ausdruck birr (gütig sein) in diesem Vers ist ein sehr umfassender Begriff, der jene Freundschaft und Großmütigkeit beschreibt, die über Gerechtigkeit weit hinausgeht. Es ist der gleiche Begriff, mit dem die Pflicht des Muslims gegenüber seinen Eltern beschrieben wird: birr al-walideen (gütig sein zu den Eltern).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Gründe, Ausmaß und Bedingungen eines Krieges im Islam eingehend vorgeschrieben sind.

  1. Die natürliche Basis für eine gute zwischenmenschliche und zwischenstaatliche Beziehung ist Frieden und Zusammenarbeit.
  2. Krieg ist ein Mittel, um einem unnatürlichen Zustand zu begegnen, nachdem alle friedlichen Mittel hierzu erschöpft sind.
  3. Kriege gehören nach juristisch-islamischer Definition nicht zur Kategorie des "Erlaubten", aber zur Kategorie des "Notwendigen", wobei die Grenzen der unbedingt notwendigen Maßnahmen nicht überschritten werden sollen.
  4. Kriege sollen sich nicht gegen die Zivilbevölkerung richten.
  5. Kriege sollen sofort beendet werden, wenn eine Partei den Frieden anstrebt. Kriegsgefangene müssen eine gute Behandlung bis zu ihrer Freilassung erfahren.

Wie sieht nun die Selbstverteidigung im privaten Alltagsleben aus? Wenn man sich im privaten oder öffentlichen Bereich für seine Rechte einsetzt, kann dies durch gerichtliche Schritte oder im Rahmen des geltenden Rechts in Form von Selbstverteidigung geschehen. In keinem Fall darf jedoch ein Ausgleich angestrebt werden, der größer ist als das zugefügte Unrecht. Man kann höchstens eine gleichwertige Wiedergutmachung verlangen.

Die ideale Vorgehensweise besteht nicht darin, den Durst nach Vergeltung zu stillen, sondern auf bessere Weise eine Versöhnung herbeizuführen. Man kann Schritte einleiten, um eine Wiederholung zu vermeiden und zwar mit psychischen und moralischen Mitteln. Das beste moralische Mittel ist Vergebung und Liebe, um damit Hass in Freundschaft zu verwandeln. In diesem Fall ist der Lohn unendlich größer, denn dieses Verhalten gewinnt Gottes Wohlgefallen. Dies alles wird im Koran mehrmals bestätigt. Vergleiche dazu Sure 42, Vers 40: "Die Vergeltung für ein Unrecht ist ein Unrecht in gleichem Maße. Wer jedoch vergibt und Versöhnung bewirkt, dessen Lohn obliegt Allah."

In diesem Zusammenhang lesen wir auch Sure 4, Vers 149: "Ob ihr etwas Gutes offen zeigt oder geheim haltet oder etwas Böses verzeiht, Gott ist voller Verzeihung und mächtig." In diesem Vers werden die höchsten ethischen Lehren ausgedrückt. Die Muslime werden gelehrt, sich tugendhaft zu verhalten oder wenigstens Ausdauer zu zeigen, auch Provokationen gegenüber. Sie werden aufgefordert, weiterhin offen zu bleiben und Gutes zu tun. Sie sollen dem niederen Drang nach Vergeltung widerstehen und statt dessen versuchen, Böses mit Gutem zu vergelten. Dadurch wird die Seele erhöht, denn höher und reiner als der Wunsch nach Rache ist die Fähigkeit zu vergeben.

Wer heute dem Islam den Vorwurf der Gewalttätigkeit macht, sollte in der Geschichte nachlesen. Wie viel Blut ist für die Ausbreitung des Christentums zur Zeit Konstantins und später durch die Bekehrung der Sachsen, durch Karl den Großen, vergossen worden? Wie viele unschuldige Leben sind durch die Inquisitionstribunale ausgelöscht worden? (Nicht zu vergessen der 30jährige Religionskrieg im 17. Jahrhundert.) Doch wenn wir gerecht sind, müssen wir zugeben, dass es auch unter den Christen Menschen gab, die sich gegen jedes Blutvergießen aussprechen. Es wäre deshalb falsch zu unterstellen, dass das Christentum eine Religion des Schwertes ist. Wäre der Islam eine Religion des Schwertes, gäbe es in den islamischen Ländern bis zum heutigen Tage gewiss keine Christen mehr.

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Religion und staatliche Ordnung im Islam
von Alfred Huber

Papyrus-Logo Nr. 1/87, pp. 24—26

Der moderne Islam sieht sich vor Aufgaben gestellt, die früher nicht oder nicht in dem Maße wie heute denkbar waren. Die Mehrheit der muslimischen Theologen betrachtet den Islam als universelles Lebensprinzip, durch das, neben religiösen und spirituellen Aspekten, auch alle anderen Seiten des menschlichen Lebens geregelt werden. Dazu zählt man unter anderem die sozialen, wirtschaftlichen und auch politischen Angelegenheiten der Menschen. Gern wird in diesem Zusammenhang der Satz zitiert: "Der Islam regelt das gesamte Leben des Menschen, von der Wiege bis zum Grab."

Umstritten ist allerdings der machtpolitische Aspekt des Islam. Fest steht hingegen, daß der Islam zur Zeit des Propheten und der ersten Kalifen auch eine politische Ordnung darstellte, insofern, als religiöse und politische Herrschaft in einer Hand vereinigt waren. Im frühen Islam war es undenkbar, daß die Herrschaft von jemandem ausgeübt wurde, der nicht gleichzeitig das Vertrauen der religiösen Kräfte besaß. Dementsprechend waren die Kalifen zugleich weltliche und geistliche Herrscher.

Die politische Herrschaft wird ebenso wie jedes religiöse Postulat auf Koran und Sunna zurückgeführt, darunter den sogenannten "sozialen Imperativ", wonach "das Gute zu befehlen und das Schlechte zu verbieten" sei (z.B. in Sure 22, Vers 41).

Eine Idealvorstellung zu allen Epochen der islamischen Geschichte war es, daß der "beste Muslim" den Staat regieren soll. Der beste Muslim ist durch Wahl zu bestimmen, wie es im ersten islamischen Jahrhundert der Fall war. Allerdings war die Freiheit der Entscheidung bald nicht mehr gegeben. Dies bezeugt die Überlieferung von der Einsetzung Yazids als Nachfolger des Omayyadenkalifen Muawiya. Muawiya habe gegen Ende seines Lebens die Delegierten der wichtigsten Provinzen zu sich gerufen, damit sie den Gehorsamseid auf Yazid ablegen. Ibn Al-Muqaffa, auf den diese Überlieferung zurückgeht, habe sodann gesagt: "Dies ist der Beherrscher der Gläubigen!" Dabei zeigte er auf Muawiya. Sodann: "Dies ist sein Nachfolger!" Und er zeigte auf Yazid. Und schließlich: "Und dies ist für denjenigen, der gegen diese Entscheidung opponiert!", wobei er auf sein Schwert zeigte.

Im Laufe der weiteren islamischen Geschichte tauchte eine immer größere Unsicherheit über die Form der Herrschaft auf, weshalb es später de facto zu einer Trennung zwischen Staatsangelegenheiten und Religion kam. Dennoch war stets die Vorstellung hinsichtlich der Einheit von Din (Religion) und Daula (Staat) präsent.

Dieser Gedanke ist freilich auch in anderen Kulturen und Religionen nichts Fremdes. Beispielsweise gab es bis in die Neuzeit im christlichen Europa vehemente politische Machtansprüche der Kirche (Investiturstreit, Bischöfe als Landesfürsten, Kirchenstaat etc.). Dies trotz des bekannten Bibelspruchs, "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist."

Erst Rationalismus und Aufklärung sorgten für das Entstehen säkularistischer Ideen, wodurch die Herrschaftsbestrebungen der Kirche beschränkt wurden. Offensichtlich gehört es zu den Wesenszügen einer jeden religiösen Bewegung, ihr "Himmelreich auf Erden" durchzusetzen.

Die termini technici für die islamische Staatstheorie sind Kalifat (chilafa) und Imamat (Imamiyya). Der Kalif wird als Nachfolger oder Stellvertreter des Propheten (= chalifat ar-rasul) angesehen, nicht aber als Stellvertreter Gottes. Eine ähnliche Funktion erfüllt der Imam (wörtl.: Führer, Leiter); der Begriff des Imamats wurde besonders von schiitischen Dogmatikern ausgebaut. Die beiden Begriffe schließen den Willen der Umma (= der islamischen "Nation") ein; erst ein Konsensus (Idschmaa) innerhalb der Umma rechtfertigt den Herrschaftsanspruch.

Der islamische Herrschaftsanspruch findet seinen Ausdruck in der Scharia, wo eindeutige Richtlinien für die Ausübung der Herrschaft und die geforderte Qualität des Herrschers festgelegt sind.

Erst die Einhaltung der Scharia macht aus einer zivilen Herrschaft eine religiöse Herrschaft. Allfällige mangelnde Kenntnisse des Herrschers über das islamische Gesetz können durch die Beistellung eines Rates von Gelehrten ausgeglichen werden. Dieses Prinzip der Shura (= Beratung) hat Eingang in die modernen Verfassungen der meisten islamischen Länder gefunden. Eine weitere Beratungsfunktion erfüllt der Mufti und das ihm unterstellte Büro für Entscheidungsfragen, dessen Aufgabe gleichfalls in der Koordinierung der Regierungs- und Verwaltungspraxis mit den Normen der Scharia besteht.

Da die Scharia als das abgeschlossene und unveränderliche Gesetz Gottes angesehen wird, muß jede Rechtsbestimmung oder Entscheidung, die damit vereinbar ist, eo ipso als gut und gerecht gelten. Die Scharia stellt ein genuines islamisches Rechtswerk dar, welches ohne "importierte" Rechtsbestimmungen auskommt. Das ist der Grund, weshalb viele orthodoxe Muslime in Ägypten die Meinung vertreten, die Einführung der Scharia sei geeignet, die ökonomischen, kulturellen und politischen Probleme des Landes zu lösen.

Vor kurzem hat der Scheich der Azhar, Gad al-Haqq Ali Gad al-Haqq in einem Interview (in der Zeitschrift "at-Tasawwuf al-Islami" Nr. 95 vom Dezember 1986) zu einigen Themen Stellung genommen, die oben angeschnitten wurden. Darin erklärte Scheich Gad al-Haqq das Prinzip der Shura zum "eigentlichen Kernpunkt der islamischen Herrschaftsordnung". Dieses Prinzip ist "tiefgreifender als das europäische Demokratieverständnis, welches die islamischen Länder imitiert haben."

Auch der Prophet Muhammad habe sich der Shura seiner Gefährten unterworfen. Was die "derzeit in Kraft befindlichen und international üblichen Verfassungs- und Grundgesetze" betrifft, so hätten diese durchaus ihre Berechtigung, und "es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn die islamischen Staaten Teile davon, die mit dem Shura-Prinzip im Einklang stehen, übernehmen".

Erwartungsgemäß erteilt der Scheich al-Azhar allen Säkularisierungsbestrebungen in Ägypten eine klare Absage. Derartige Pläne seien "gegen den Islam und seine Bestimmungen" gerichtet und würden "zionistisches Gedankengut" in sich tragen.

Demgegenüber habe der Islam "nichts gegen das Mehrparteiensystem einzuwenden", denn "bereits nach dem Tode des Propheten hat es zwei Parteien gegeben": die Ansar (= Anhänger des Propheten in Medina) und die Muhagirun (= die ersten Mekkaner, welche die Hidschra des Propheten mitgemacht hatten).

Der Scheich Al-Azhar bestätigte schließlich die immer wieder vorgebrachte Ansicht, die Einführung der Scharia stelle "die Lösung für alle chronischen und verworrenen Schwierigkeiten" dar, denn sie umfasse neben "wirtschaftlichen und finanzpolitischen Regelungen" auch ein ausgebildetes "Herrschaftssystem".

Blick zur Zitadelle

 

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