Kairener Stadtteilsanierung
    Inhalt:
    Wie bedroht ist Kairos islamische Altstadt?
    Entwicklungsansätze für die Rehabilitierung von Kairener Wohnquartieren
    Stadtteilsanierung – ein Dilemma
    Ain el Sira – ein "Triumph der Phantasie" oder "Architektur des Mangels"
    Wohnungsnot in Kairo – Verslumt die Stadt?
    Max Herz Pascha – Ägyptens bedeutendster Architekt... vor 1914
    Ramsis Wissa Wassef – Traditionelle Bauformen und Kunsthandwerk in Ägypten

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Wie bedroht ist Kairos islamische Altstadt?
von Barbara Hatour-Satow

Papyrus-Logo Nr. 5/83, pp. 5—10

Die islamische Altstadt von Kairo ist den meisten bekannt von einem Besuch auf dem Bazar Khan el-Khalili. Manche sind auch zu den entfernter gelegenen historischen Stätten Bab el-Futuh und Ibn-Tulun-Moschee vorgedrungen. In welch bedrohtem Zustand sich die meisten historischen Monumente sowie Wohnhäuser befinden ist auffällig. Im Interesse, das islamische Erbe Kairos zu bewahren bzw. zu retten, wurde 1980 im Auftrage der UNESCO eine Untersuchung mit dem Titel "The Conservation of the old city of Cairo" durchgeführt. Sie soll hier kurz dargestellt werden. Sie soll einen Eindruck darüber vermitteln, mit welchen Schwierigkeiten eine "Altstadtsanierung" in Kairo zu kämpfen hat oder hätte und wie dringlich sie ist.

Das Gebiet, um das es hier gehen soll, und das ich der Einfachheit halber Altstadt nennen werde, wird im Norden begrenzt von Bab el-Futuh und Bab el-Nasr, im Süden von Ibn Tulun, im Westen von der Port-Said-Straße und im Osten von Salah Salem. Seine Fläche erstreckt sich über 3,7 km²; zum Vergleich: historisches Venedig = 4,5 km² und Greenwich Village, NY = 1,75 km².

1976 betrug die Bevölkerung der Altstadt 320.000. Während die Bevölkerung ganz Kairos jährlich um 3,5% zunimmt, infolge der hohen Geburtenrate und der Landflucht, nahm sie hier in den Jahren 1966—76 um 8,6%, d.h. 30.000 Menschen ab! Warum?
Wegen des Verfalls der Häuser; laut Nawal Hassan (s.u.) stürzen monatlich zwei Häuser ein!

Gründe:
  1. mangelnde Instandhaltung der Häuser infolge der Mietgesetze, die eine Erhöhung der vom Staat sehr niedrig festgesetzten Mieten sowie eine Kündigung der Mieter so gut wie unmöglich macht
  2. Zerstörung von Häusern aus kommerziellem Interesse; d. h. nicht ausklagbare Mieter verlassen das Haus, wenn es zusammenstürzt, nun ist Platz für ein neues Geschäft
  3. steigender Grundwasserspiegel
  4. mangelnde Bautechnik besonders der in den letzten 30 Jahren gebauten Häuser

Die historische Bedeutung der Altstadt ist daraus zu ersehen, daß sich von den 620 in ganz Kairo aufgeführten historischen Monumenten 450 hier befinden. Bis vor 30 Jahren waren sie in gutem Zustand, seitdem sind sie infolge des steigenden Wasserspiegels und der mangelnden Instandhaltung besonders der Dächer – administrative Gründe hierfür s. u. – von rapidem Verfall bedroht.

Da es keinen Plan zur Altstadtsanierung gibt und auch einige Konfusion über die Zuständigkeiten der verschiedenen Behörden herrscht, liegt die de facto-Kontrolle der Altstadt in den Händen der hier vorherrschenden – sprich kommerziellen – Interessen. Die Altstadt weist die größte Dichte an kommerziellen und kleinen Manufaktur-Unternehmen Kairos auf: 1 Geschäft pro 23,9 Bewohner gegenüber 34,7 im Kairoer Durchschnitt. Das Wirtschaftsbild hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. An Stelle der Handwerker und ihrer Werkstätten treten mehr und mehr kleine Manufakturbetriebe, die ungelernte Arbeitskräfte beschäftigen, zum großen Teil eine Folge der sich massiv ausbreitenden Touristenindustrie. Täglich fahren 94.000 Arbeiter (ca. 1979) von umliegenden Stadtgebieten zur Arbeit in die Altstadt oder aus ihr heraus; d.h. ca. die Hälfte der hier Wohnenden arbeiten außerhalb, während ca. die Hälfte der hier Arbeitenden von dort kommen. Welche Folgen das für den Verkehr hat, kennt jeder aus eigener Erfahrung.

Die Altstadt ist reich an Wohltätigkeits- und anderen Organisationen, so sind z.B. die Besitzer der mit verschiedenen Rohmaterialien arbeitenden Betriebe in Kooperativen zusammengeschlossen. Welch schwache Position demgegenüber die Behörden in diesem Stadtteil einnehmen, läßt sich z.B. daraus ersehen, daß 30% der neuen Gebäude ohne gültige Erlaubnis entstehen und ständig historische Gebäude zerstört werden. Neu entstehen fast ausschließlich kommerzielle Unternehmungen, keine Wohnungen. 1977—79 zwang der Verlust ihrer Wohnungen viele Familien, Unterkunft in Moscheen zu suchen; 3.700 Menschen wurden damals als in Moscheen hausend registriert.

Was ist zu tun? Die UNESCO-Studie schlägt vor:
  • Verbesserung der Wohnsituation, um den Auszug der Bevölkerung zu verhindern;
  • die Ausbreitung kommerzieller und industrieller Aktivitäten muß aufgehalten werden, während Handwerk und Handel, die mit dem Charakter der Altstadt übereinstimmen, unterstützt werden sollen;
  • Wasser, Elektrizität und Kanalisation sind zu verbessern, die Verkehrssituation soll nur durch bessere Regelung, keinesfalls durch den Bau weiterer Straßen in den Griff zu bekommen versucht werden;
    Seit April 1982 wird an einer Hochstraße gebaut, die im Zuge der Al-Azhar-Straße vom Ataba-Square bis Salah-Salem führt und bis 1984 fertiggestellt sein soll.)
  • Lieferwagen ab einer bestimmten Größe sollte das Fahren in der Altstadt verboten werden, da die durch sie verursachten Erschütterungen die Bauten gefährden;
  • Straßeninstandhaltung und -reinigung sowie Abfallbeseitigung müssen effektiv sein, evtl. anders organisiert werden;
  • das Problem des steigenden Grundwasserspiegels muß gelöst werden;
  • durch Information soll ein Umweltbewußtsein in der Bevölkerung geweckt bzw. vergrößert werden;
  • Land in Besitz der Waqf soll getauscht werden gegen außerhalb der Altstadt liegenden Boden, um das oft leerstehende Land für Behausungen nutzen zu können.

Verwaltung: Für die Altstadt administrativ zuständig sind z.Zt. folgende Behörden:

  • die Egyptian Antiquities Organisation, die für die historischen Monumente verantwortlich ist;
  • die Waqf-Behörde, die viele islamische Monumente besitzt
  • und der Gouverneur von Kairo.

Der Zustand der Häuser: In dem trocken heißen Ägypten mit durchschnittlich 5 Regentagen im Jahr stellt das Wasser die größte Bedrohung der Häuser und Denkmäler dar. Der steigende Grundwasserspiegel bedroht die Bauten in ihren Fundamenten:

Der Grundwasserspiegel, der 1950 noch 1,5 m unter der Erdoberfläche lag, ist heute bis fast an die Erdoberfläche angestiegen. Durch die Kapillarwirkung des Wassers steht dieses in manchen Fundamenten bzw. im Mauerwerk bis zu 10 m hoch.

Der Säuregehalt des Grundwassers, verstärkt durch die undichte Kanalisation, interagiert mit den Chemikalien in der Mauer und dem Oxygen der Luft an der Außenwand. Die entstehenden Salze zerfressen das Mauerwerk.

Der Regen bedroht die Häuser vom Dache her. Warum?
  1. Der angehäufte Staub auf den Dächern ist stark säurehaltig. Seine Auflösung im Regenwasser zerstört die Hausoberfläche im Nu.
  2. Die mangelnde Instandhaltung der Dächer hinterläßt eine freiliegende Lehmschicht – bis vor kurzem war diese Bestandteil der traditionellen Konstruktionstechnik –, die den Regen aufsaugt. Die untere Lehmschicht bleibt noch lange feucht, nachdem die obere schon getrocknet ist. Diese untere Lehmschicht ist in Berührung mit Holzträgern und Dachkonstruktion, die das Dach stützen. Die Feuchtigkeit läßt das Holz verfaulen und schließlich das Dach zusammenstürzen. Früher wurden jährlich vor der Regenzeit Reparaturen an der den Lehm bedeckenden Betonschicht vorgenommen. Heute läßt man Dächer und obere Stockwerke, die nur geringe Mieten einbringen, verfallen. Nur den untersten Stock dichtet man gegen Wasser ab, wenn sich dort gute Miete zahlende Läden befinden.

Restauration: In der Altstadt liegen 450 aufgelistete (indexed) Monumente. Man kann davon ausgehen, daß jedes Gebäude mindestens LE 1 Mio. für grundlegende Restaurationen benötigt, was einen Etat von LE 450 Mio. erfordern würde. Der Egyptian Antiquities Organisation standen 1979 für islamische Gebäude ganz Ägyptens LE 1 Mio. zur Verfügung; hinzukommen LE 1 Mio. von seiten der Waqf-Behörde, d.h. zusammen LE 2 Mio.

Diese Diskrepanz zwischen benötigten und zur Verfügung stehenden Mitteln macht es notwendig, Prioritäten zu setzen. Die UNESCO-Studie enthält einen Notstandplan für die nächsten 5 Jahre – 3 davon sind bereits tatenlos vergangen –, um diese an islamischen Denkmälern so reiche Altstadt vor dem Verfall zu retten. Die Zuständigkeit der Durchführung sollte in Händen einer "Cairo Conservation Agency" konzentriert werden. Das Ausland sollte um dringend benötigte Hilfe gebeten werden.

Ähnliche Studien sind für andere Stadtteile – wie z.B. Alt-Kairo – anzuregen.

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Entwicklungsansätze für die Rehabilitierung von Kairener Wohnquartieren
von Florian Steinberg

Papyrus-Logo Nr. 3/90, pp. 32—35

Im historischen Zentrum Kairos – oft auch das "Islamische Kairo" genannt – befinden sich zwischen 600—700 historisch wertvolle Gebäude, welche schon halb zerfallen oder äußerst bedroht sind. Es gibt keinen anderen Ort in der islamischen Welt, der eine gleiche Dichte an Monumenten islamischer Architektur aufweisen könnte. In diesem historischen Teil Kairos läßt sich eine mehr als 1.000jährige islamische Stadtgeschichte studieren, deren Fortbestand durch die heutige Entwicklung stark gefährdet ist. Diese Gefährdung betrifft nicht nur die historischen Gebäude, sondern die urbane Gesamtheit, das "islamische Kairo" mit seiner unverwechselbaren Stadttextur.

Die Kairener Altstadt – seit 1979 in der "World Heritage List" der Kulturdenkmäler geführt – umfaßt ein Gebiet von 3,7 km² mit einer Wohnbevölkerung von 320.000 Personen; seine Grenzen sind Bab al-Fatuh und Bab an-Nasr im Norden, die Ibn Tulun-Moschee im Süden, die Port Said-Straße im Westen und die Salah Salem-Straße im Osten. Innerhalb dieses Gebietes liegt als Kernbereich die von Mauern umgebene fatimitische Stadt.

Während Groß-Kairo heute eine jährliche Zuwachsrate von 3,5% hat, nahm im Zeitraum 1966—1976 innerhalb dieses Altstadt-Gebietes die Bevölkerung um 30.000 Personen (= 8,6%) ab – und dieser Trend hält ohne Zweifel bis heute an. Vorrangiger Grund für diese Abnahme der Wohnbevölkerung in der Kairener Altstadt ist der rapide Zerfall alter Bausubstanz. Hand in Hand mit diesem Zerfall des Wohnungsbestandes sind neue kleinindustrielle und kommerzielle Aktivitäten in die Altstadt gekommen; Papierverwertung, Aluminiumproduktion, Abfallverwertung ('recycling'), Großhandel und anderes Gewerbe haben den Charakter der Altstadt verändert, während die traditionellen Handwerkszweige langsam verdrängt werden. Diese neuen Umwälzungen führen zu einem verdichteten Warenverkehr und Transport von Gütern innerhalb dieses Gebietes; ca. 94.000 Arbeitskräfte kommen täglich aus benachbarten oder entfernteren Wohngebieten. Die traditionelle Struktur, in der Handwerker, Händler und Arbeiter in einem Quartier zusammen lebten und arbeiteten, wird Schritt für Schritt durch ein neues Muster von Großhandels- und Manufakturbetrieben aufgelöst. Durch Wegzug der Wohlhabenden (u.a. Bazarhändler, Werkstattbesitzer) und das Verbleiben der Armen, oder auch durch den geringfügigen Neuzugang von armer Wohnbevölkerung hat eine Art soziale "Auslaugung" der Altstadt eingesetzt.

Der Bestand der ca. 500—600 historischen Monumente islamischer Baukultur in der Altstadt ist wegen des Fehlens der nötigen Unterhaltungsmittel und durch Anstieg des Grundwassers sowie durch Regenwasser genauso gefährdet, wie es auch die älteren Wohnbauten sind. Bei den jüngeren Wohnbauten, die z.B. weniger als 30 Jahre alt sind, ist schlechte Bauqualität und mangelnde Unterhaltung ebenfalls schon Grund für vorzeitigen Verfall. Hinzu kommt, daß die Neubauten der letzten Jahre und Jahrzehnte in keiner Weise den architektonischen Mustern der Altstadt entsprechen, daß sie in unsensibler Art und Weise Dimensionen und Proportionen verändern und damit auch städtebauliche Qualitäten der Altstadt in Frage stellen bzw. bedrohen.

Die gegenwärtigen Veränderungen der Altstadtnutzung haben auch einschneidende Effekte für die Verkehrssituation. Der traditionelle Fußgänger- und Karrenverkehr wird durch motorisierte Transportfahrzeuge (Pritschen-LKWs, Kleinbusse u.ä.) eingeengt, privater PKW-Verkehr als Erscheinung der Neuzeit nimmt zusätzlichen Raum, so daß innerhalb der engen, gewundenen und von allen Verkehrsteilnehmern gleichzeitig genutzten Straßen und Gassen der Altstadt ein gefährlicher, stark verdichteter und sehr unterschiedlich fließender Verkehr herrscht, dessen Lärm eine neue Dimension der Umweltprobleme Kairos aufzeigt. Die wenigen größeren Straßen (z.B. Sharia al-Azhar und Sharia Qal'a) oder Plätze (z.B. Midan al-Husayniya) sammeln den gesamten Durchgangsverkehr, sind permanent von fließendem oder ruhendem Verkehr verstopft.

Bis zum Ende der 70er Jahre hat diese Situation der Altstadt Kairos wenig Beachtung von ägyptischer oder internationaler Seite gefunden, und erst 1979 – mit der Aufnahme in die UNESCO World Heritage List – setzte ein auch internationales Interesse an der Rettung und Erneuerung von Kairos Altstadt ein.

Es haben sich u.a. das Deutsche Archäologische Institut, die UNESCO, die Weltbank, die ägyptische Antiquitätenbehörde und die Aga Khan-Stiftung für Architektur um die Formulierung von Aspekten einer Erneuerungsstrategie bemüht, welche in erster Linie die Erhaltung, Rettung der historischen Monumente anstrebt, aber darüber hinaus auch die Erneuerung und Rehabilitierung des Altstadtgebietes als lebendiges, ökonomisch aktives Wohn- und Arbeitsgebiet vorsieht.

Zwar gibt es bis heute noch kein umfassendes Konzept für die Altstadterneuerung Kairos, doch eine Reihe von Studien (und Seminaren) zu diesem Thema haben erste Vorschläge und Konzepte geliefert. Ein summarischer Überblick über diese Erneuerungskonzepte soll den Stand der Entwicklung vermitteln und die offenen Fragen in Bezug auf positive Entwicklungsansätze für die Rehabilitierung von Wohnquartieren herausarbeiten:

Bereits 1978 schockierte Berque die Fachwelt mit der provokanten Frage: "Can the Medieval City be saved?" In seiner umfangreichen Studie über die vorhandene Substanz der Altstadt, ihre Probleme und die wahrscheinliche Entwicklungsperspektive des Zerfalls wurde ein alarmierender Bedarf nach Altstadterneuerung beschrieben. Der Studie fehlte es leider an Konzeptionen oder Überlegungen für die Rettung und Sanierung von Wohnquartieren.

Im gleichen Jahr forderte Janet Abu Lughod in ihrem Entwurf für eine Revitalisierung der traditionellen Stadtquartiere ("Preserving the Living Heritage of Islamic Cities") eine Wiederbelebung traditioneller Formen und Inhalte der arabischen Stadtkultur in Kombination mit einer Anpassung an zeitgemäße Bedürfnisse. Es ist eine klare Abgrenzung von Konzepten musealer Rekonstruktion von Altstadtquartieren und besonders deren Monumente. Vielmehr geht es ihr um eine integrierte Konzeption der Erhaltung alter Bausubstanz, der Schaffung neuer Bauten und der Aktivierung neuer Gewerbebetriebe mit dem Ziel einer (Wieder)-Belebung aktiver, dynamischer Quartierskultur.

Ebenfalls im Jahr 1978 veranstaltete das Goethe-Institut gemeinsam mit der UNESCO ein internationales Seminar, bei dem die Rettung des kulturellen Erbes von Kairo im Vordergrund stand. Obwohl entsprechend der Intentionen des Veranstalters die Restauration islamischer Architekturmonumente im Vordergrund stand, wurde die Erarbeitung von Konzepten der Quartierserneuerung ("area rehabilitation") als zukünftiger Themenschwerpunkt bereits benannt.

Die UNESCO-Studie "The Conservation of the Old City of Cairo" (1980) stellt dann das erste umfassendere Konzept für eine Altstadterneuerung dar. Für sechs "Prioritätszonen" wurde ein 5-Jahres-Dringlichkeitsplan aufgestellt, der u.a. Gebäudeinstandhaltung und Modernisierung der Wohnbebauung empfahl. Zur Durchführung des Dringlichkeitsprogramms wurde die Ausarbeitung einer "Urban Design Policy" vorgeschlagen, die Richtlinie für das Management der Stadterneuerung sein sollte. Wichtigstes Durchführungsinstrument sollte eine "Cairo Conservation Authority" sein, welche als handlungsfähige Institution sämtliche behördlichen Funktionen zusammenfassen sollte (bestehend aus Vertretern der Egyptian Antiquities Organization, dem Gouvernorat Kairo und dem Ministry of Awqaf). Zur Behebung der technischen Probleme (Wasser, Abwasser, Müll, Verkehr, Gebäudezerfall) wurden erste Ansätze formuliert und Notmaßnahmen zum Schutze der von Grundwasser und Regenfeuchtigkeit bedrohten Bausubstanz vorgeschlagen.

Noch im gleichen Jahr wurde eine internationale Konferenz zur Erhaltung des islamischen Kairo einberufen, um die UNESCO-Vorschläge zu diskutieren. Sie brachte das damalige (und auch noch heutige) Dilemma klar zu Tage: Einerseits sind zahlreiche Organisationen und Ämter für die Entwicklung der Altstadt verantwortlich, doch ist andererseits ihr Engagement für diese Aufgabe, ihr Interesse oder Problembewußtsein sehr unterschiedlich, es reicht von völliger Ignoranz bis hin zu (zumindest verbaler) Zustimmung. Die UNESCO-Konzeption von Pilotprojekten in Prioritätszonen wurde von den lokalen Architekten wenig begrüßt, da Generalentwicklungspläne immer noch bevorzugt werden. Neben der Frage zukünftiger Finanzierungsmöglichkeiten für Stadterneuerung würde der Bedarf an angemessenem Personal und die eingefahrenen bürokratischen Praktiken die Stadterneuerungspolitik sehr behindern. Trotzdem (oder gerade deshalb) empfahl die Konferenz, den Vorschlägen der UNESCO-Studie dringend zu folgen und diese zusätzlich durch weitere Expertisen zu untermauern.

Auch die Weltbank hatte Interesse an einem integrierten Stadterneuerungsprojekt in der Altstadt von Kairo signalisiert. 1983 wurde von ihr das "Arab Bureau for Design and Technical Consultations" beauftragt, die Empfehlungen der internationalen Konferenz von 1980 zu vertiefen. Wegen des Fehlens einer umsetzbaren Projektpolitik und wegen immer noch ungeklärter politischer Haltung gegenüber einer Strategie der "area conservation" wurde bis heute ein anvisiertes Weltbank-Projekt für Gamaliya, den nördlichen Teil der fatimitischen Altstadt, auf Eis gelegt.

1984 veranstaltete die Aga Khan-Stiftung in Kairo eine weitere internationale Konferenz zum Thema "The Expanding Metropolis: Coping with the Urban Growth of Cairo". Sie behandelte auch die Altstadterneuerung. Trotz der Ernüchterung über die bisherige Ignoranz und Unentschlossenheit der ägyptischen Behörden wurde als Ergebnis der Weltbankstudie von 1983 ein klar umrissenes Konzept zur Rehabilitierung und Erneuerung von Gamaliya vorgestellt.

Die Stadterneuerung Gamaliyas wird als Langzeitprozeß bis mindestens zum Jahre 2000 gesehen, wobei ein 5-Jahres-Programm zur Verbesserung der Infrastruktur den Anfang bilden soll. Zur Philosophie dieser Interventionsstrategie gehört der schrittweise Aufbau der notwendigen Institutionen und die Stärkung der entsprechenden relevanten Nachbarschaftsorganisationen in Gamaliya. Die für Gamaliya typische Struktur einer Mischnutzung (Wohnen und Gewerbe) soll durch eine kleinteilige Entwicklung der ökonomischen, soziokulturellen und baulichen Qualitäten des Gebietes regeneriert werden, die Beteiligung der "local communities" soll Stütze des Stadterneuerungsprozesses sein.

Mit diesem Vorschlag liegt bis zum heutigen Tage das umfassendste organisatorische Konzept für "Area Conservation/Rehabilitation" in der Altstadt Kairos vor (auch wenn hier auf die Ausklammerung der Monumentenkonservierung hingewiesen werden muß!). Es obliegt mal wieder der politischen Entscheidung, diese Strategie mit ihren vielfältigen ökonomischen und sozialen Konsequenzen abzusegnen, ihre Implementierung mit der zugesicherten Weltbank-Unterstützung zu wagen.

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Stadtteilsanierung – ein Dilemma
von Omar Akbar

Papyrus-Logo Nr. 3/90, pp. 17—22

Sanierung (lat. sanare) meint "heilen, gesund machen, z.B. in einem Stadtteil gesunde Lebensverhältnisse schaffen" (so laut Duden). Dieser Stadtteil kann zum historischen Kern gehören, ein heiliger Ort sein oder auch zu jenen Gebieten zählen, die von den einkommensschwachen Schichten der Stadt bewohnt werden.

Heute zählt die Sanierung vielerorts neben dem Neubau zum wesentlichen Bestandteil der Stadtentwicklungsstrategien. Das blinde Abreißen, wie nach dem Zweiten Weltkrieg üblich, wurde spätestens seit dem Ende der 60er Jahre, zumindest in Europa, etwas vorsichtiger betrieben. Dies war ein relativ langwieriger und mühseliger Prozeß, denn die Auseinandersetzung darüber mußte nicht nur mit den Bauspekulanten, den Finanziers und den Wohnungsbaugesellschaften geführt werden, sondern es mußte auch dem Zeitgeist begegnet werden. Wieviel Häßlichkeit und Zerstörung wurde in Kauf genommen, um dem Ideal des modernen Menschen mit Kleinfamilie, seiner praktisch geschnittenen Wohnung, seinen stereotypen Einbauschränken, seinen Autos und den dazugehörenden Straßentypen, Einkaufs- und Erholungszentren, der Trennung des Wohngebietes vom Arbeitsort etc. zu entsprechen? Einer der Protagonisten dieser Ideologie unter den Architekten, Le Corbusier, stellte sich die Umgestaltung des alten Paris wie folgt vor: Ausgesuchte Monumentalbauten sollten von jenen "verschnörkelten Szenerien, die die Geister der Vergangenheit beschwören..." befreit werden, denn "die Tuberkulose, Demoralisierung, Elend, Schande triumphieren in dieser Hölle." (Anm. 1) Die Baugeschichte der Stadt sollte auf Einzelobjekte reduziert, der dazugehörige Kontext beseitigt werden. Mit diesen Maßnahmen meinte man auch die Situation der benachteiligten Bevölkerungsgruppen verbessern, oder richtiger, verdrängen zu können. Von der Autogesellschaft fasziniert, rief er dazu auf, das bestehende Stadtzentrum zu Gunsten einer autogerechten Anlage umzugestalten. Hier sollte das Geschäftsleben und die Verwaltung plaziert sein. "Das Zentrum der Stadt käme also endgültig für das Familienleben nicht mehr in Betracht." (Anm. 2)

Ob nun ganz entvölkert oder nur teilweise, diese Grundidee hat sich lange und mancherorts bis heute gehalten. Wieviel gebaute Geschichte weggeräumt wurde und wieviel gewachsene soziale Organisationsformen zu Gunsten einer urbanen Ideologie und einer stereotypen, inzwischen internationalen Architektur geopfert wurden, ist kaum mehr nachzuvollziehen.

Daß wir heute eine Situation vorfinden, die mit der Geschichte der Stadt und mit den Wünschen der Bewohner anders umgeht, ist ein Produkt heftiger Auseinandersetzungen jüngeren Datums zwischen den Betroffenen und jenen sozialen Gruppen, die für die Kahlschlagsanierung werben. Andererseits haben vor allem die Architekten/Planer und andere – sogar die Politiker – gelernt, daß die baulich-räumliche Ordnung des Stadtraumes nicht nur eine Frage der Gestaltung und der geometrischen Anordnung ist, sondern eben auch ein Ort, an dem Menschen ihre sozialen Beziehungen organisieren und pflegen, mit dem sie emotional verbunden sind.

Bekanntlich kann man eine relativ angepaßte und städtebaulich akzeptable Architektur sowie ein angenehmes Wohnumfeld schaffen, der Aufbau nachbarschaftlicher Solidarität und Beziehungen jedoch bedarf der Zeit und hat seine eigene Geschichte. Bestehendes einfach abzureißen und irgendwoanders neu aufzubauen, wird heute ernsthaft in Frage gestellt. Die sozialen Kosten, die bei einer Umsiedlung in die Trabantenstädte entstehen, widersprechen dem behutsamen Umgang mit den vorhandenen Ressourcen, wie etwa den bestehenden Dienstleistungseinrichtungen, den Gewerbetreibenden, dem Einzelhandel, den Gemeinschaftshäusern etc.

Schaut man genauer hin, so stellt man fest, daß ein behutsamer Umgang mit der Stadt und ihren Bewohnern seit noch nicht einmal ganz zwanzig Jahren gepflegt wird und das Produkt einer konsequenten, aber auch langwierigen Auseinandersetzung ist, die nur unter demokratischen Bedingungen in einer Gesellschaft möglich ist.

Da die Menschen anscheinend die Fehler anderer unentwegt wiederholen müssen, ist es nicht allzu verwunderlich, daß wir hierzulande ähnliche Erscheinungen wiederfinden. Ganze Wohn- und Gewerbegebiete in den Innenstädten Ägyptens werden durch eine schwer verständliche Stadtentwicklungspolitik zugrundegerichtet. Die Altstadt, besser gesagt, das was von ihr noch übrig geblieben ist, ist noch das Sorgenkind einer kleinen Gruppe von Historikern, Planern, Archäologen, Architekten und vielleicht einiger sozialer Gruppierungen, die mit dem Rücken zur Wand stehen und retten wollen, was zu retten ist.

Beim Schnell- und Hochstraßenbau etwa könnte man meinen, einige Verkehrsplaner hätten nur noch ein Ziel verfolgt: den Moloch Verkehr auf möglichst brutale Weise zu bändigen, d.h. den Verkehr nur zu entflechten und zu kanalisieren, anstatt auf Mittel zu sinnen, ihn einzuschränken. Daß die Straßenplanung ein Teil der Stadtgestaltung sein könnte, ist kaum in Betracht gezogen worden.

Täglich werden Villen und historisch wertvolle Gebäude oder Gebäudekomplexe abgerissen, um Raum für jene Billigarchitektur zu schaffen, die nur das Ziel hat, auf einer kleinen Fläche eine maximale Rendite zu erzielen. Der liebe Gott allein mag wissen, wie diese Betonsilos im Widerspruch zu den offiziellen Bauvorschriften entstehen, die besagen, daß das Verhältnis zwischen der bebauten und der freien Fläche 60:40% sein muß.

Wo man hinschaut, vom Norden bis in den Süden des Landes, entstehen hoch subventionierte Neubausiedlungen am Rande der Städte mit dem Ziel, die Wohnungsversorgung zu sichern. Warum diese Siedlungen gespenstisch leer stehen, bleibt dem Fremden ein Rätsel, und warum ständig neue hinzugebaut werden, entspricht einer Logik, die nicht jedem gegeben ist. In Oberägypten hat man den Eindruck, als hätte jemand irgendwelche Leute vertraglich verpflichtet, in alle Ewigkeit dieselben eintönigen, mehrgeschossigen Gebäudetypen zu bauen. Nicht nur, daß sie häßlich sind und gestalterisch weder in das Zentrum noch an den Rand der Stadt passen, sie sind darüber hinaus auch gegen alle Vernunft, die das Klima gebietet, gebaut. Im Winter bleiben sie kalt, im Sommer werden sie glühend heiß. Außerdem ist die Bauausführung in der Regel so miserabel, daß sie schon nach wenigen Jahren sanierungsbedürftig werden.

Der Schlüssel zur Lösung des Wohnungsmangels kann nicht die endlose Produktion von Stadtrandsiedlungen sein. Im Gegensatz zu jenen überteuerten Stadtrandsiedlungen in Europa fehlt hierzulande oft auch die nötige Infrastruktur wie Transportmöglichkeiten, Gemeinschaftseinrichtungen etc. Kein Wunder also, daß diese Siedlungen gähnend leer stehen, denn wer verläßt schon gerne das Gebiet, in dem er im Laufe der Zeit sein soziales Netz aufgebaut hat.

Es ist weltweit bekannt und entspricht auch der Logik, daß man, wenn möglich, dort seine Bleibe sucht, wo Arbeitsmöglichkeiten bestehen; in Ländern der Dritten Welt ist das vor allem die Innenstadt; Ort der kommerziellen und administrativen Tätigkeiten oder die Nähe eines Industriegebietes. Aus diesen Gründen ist man heute etwas vorsichtiger mit dem Abriß ganzer Quartiere in der Innenstadt, mit dem Bau von Trabantenstädten, mit der Umsiedlung von Bevölkerungsgruppen oder gar des gewaltsamen Abreißens von Spontansiedlungen und anderen ungeplanten Siedlungen. Wenn man heute in Europa daran denkt, Ressourcen zu schonen, wenn man der Stadt ihr individuelles Bild wiedergeben will und wenn man versucht, behutsam mit dem Bestehenden und mit der Planung des Zukünftigen umzugehen, dann ist man verwundert, warum die gleichen relativ vernünftigen Grundsätze nicht auch dort wirksam werden, wo mit Sicherheit alle Ressourcen knapp sind. Stadtteilsanierung müßte doch gerade hierzulande neben dem Neubau ein wesentlicher Bestandteil der Stadtentwicklungsstrategien zur Sicherung der Wohnungsversorgung sein. Dem ist leider nicht so und die Gründe können die folgenden sein:

  • Nach wie vor gilt die "europäische" urbane Kultur der Moderne als Maßstab jeglicher Entwicklung. In der Stadtgestaltung und Architektur soll sich diese Vorstellung wie folgt materialisieren: Hochhäuser, Einkaufs-, Kultur- und Verwaltungszentren, Parkanlagen und die dazugehörigen autogerechten Straßen.
  • Die bestehende soziale Gruppierung in den sanierungsbedürftigen Quartieren entspricht sicherlich nicht den Vorstellungen der urbanen Ideologie. Ein renommierter Architekt aus Kairo meinte während des Seminars "Projekte der behutsamen Stadterneuerung", "bei der Instandsetzung eines Teils der Altstadt müssen die Bewohner systematisch umgesiedelt werden, damit diese Häuser eine neue Funktion bekommen können und vor allem dem Tourismus zugute kommen." Die Altstadt soll also zu einem menschenleeren Quartier degradiert und zu einem Museum für Touristen umfunktioniert werden. Ein anderer Kollege meinte etwas unbedacht: "... sollen denn die Bewohner dieser Quartiere (Slums) demokratisiert werden?" (Hier gibt es eine interessante Parallele zu jenen europäischen Ideologen, die meinten, durch die Kahlschlagsanierung könne man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Flächen schaffen für eine architektonische Umgestaltung und sozial problematische Gruppen wegdrängen.)
  • Obwohl der Denkmalschutz in Ansätzen im Entstehen ist, scheint die Stadtgestaltung und ihre Architektur nicht als die Materialisierung der eigenen Geschichte verstanden zu werden, sondern vielmehr als ein Gebrauchsgegenstand, der ohne Bedenken auch ersetzbar sein kann.

Trotz allem kann man feststellen, daß hier und da Stimmen laut werden und Projekte existieren, die die Idee der behutsamen Sanierung bestehender Quartiere unterstützen. Folgende Gruppen sprechen für die Aufnahme dieses Themas in den Rahmen der lokalen oder nationalen Stadtentwicklungsstrategien:

  • behutsame Sanierung bedeutet die Sicherung des Wohngebietes durch relativ geringe Investitionen, denn die Grundstücke sind bebaut, Straßen verlegt, Eigentumsverhältnisse teilweise geregelt und gebietsweise existieren Entsorgungs- und Versorgungsnetze.
  • behutsame Sanierung kann zu einer Reaktivierung oder Neugründung von Bauhandwerkszweigen führen, denn auf verschiedensten Ebenen entstehen Bau- und Reparaturarbeiten. So gesehen schafft die Sanierung auf der Ebene des Kleingewerbes Arbeitsplätze.
  • behutsame Sanierung kann zu einer Sensibilisierung und zu einem Lernprozeß der Bewohner führen, z.B. im Zusammenhang mit der Nutzung der Ressourcen wie Wasser, Elektrizität etc., oder der Bedeutung der Entsorgung des Mülls.
  • behutsame Sanierung kann zu einem neuen Verhältnis zwischen den Bewohnern und der kommunal-städtischen Verwaltung führen, denn sie basiert auf dem Prinzip der Beteiligung der Bewohner in Angelegenheiten der verantwortlichen Behörden. Die Bewohner könnten auf diese Weise in die Lage kommen, über ihre Vertreterorganisationen ihre Ansprüche und Bedürfnisse anzumelden, Prioritäten zu setzen, die Ausschöpfung der Ressourcen mitzubestimmen sowie sich beim Planungsprozeß, bei der Verwaltung und der Instandhaltung einzusetzen. Eine solche Beteiligung der Betroffenen muß aber als grundsätzliche gemeinsame Zielsetzung und nicht nur als ein Instrument zur Erleichterung administrativer Aufgaben verstanden werden.
    Dabei kann den verschiedenen Medien und Veröffentlichungsorganen die Aufgabe zufallen, die Bedeutung einer behutsamen Sanierung und deren sozioökonomischen Wert zu interpretieren und auf diese Weise die Bewohner zu einer möglichst wirksamen Partizipation zu motivieren.
  • und schließlich kann die behutsame Sanierung die nachbarschaftliche Solidarität und die Selbstverwaltung der Bewohner stärken.

 

Karikatur
Hausbesitzer:
"Tut mir leid, bei mir ist keine Wohnung frei!
Aber demnächst wird das Haus einstürzen,
und wenn wir es wieder aufgebaut haben,
werde ich Ihnen eine Wohnung vermieten."

In diese Richtung gingen auch die Überlegungen eines Seminars: "Projekte der behutsamen Stadterneuerung", das von der Fakultät für bildende Künste – Heluan Universität in Zusammenarbeit mit dem Bund der Ägypter deutscher Bildung, dem Goethe-Institut Kairo und der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) vom 3.12.—6.12.1989 in Kairo organisiert wurde.

Das Ziel des Seminars bestand darin, anhand eines Erfahrungsaustausches auf dem Gebiet der behutsamen Stadtsanierung einen Beitrag zur Lösung der Wohnprobleme von einkommensschwachen Bevölkerungsschichten in Ägypten zu leisten.

Die in diesem Seminar vorgebrachten Vorschläge und Empfehlungen wurden in diesem Text und insbesondere für die obengenannten Gründe, die eine Förderung der behutsamen Sanierung verlangen, in allgemeiner Form berücksichtigt.

Es wäre falsch zu glauben, daß man nur durch die Sanierung der bestehenden Stadtteile die Wohnungsversorgung regeln könnte. Auch der Neubau muß gefördert werden. Er müßte jedoch ebenfalls behutsam betrieben werden, etwa durch Einfügen des Neuen in den bestehenden Kontext, d.h. durch die Berücksichtigung der bestehenden gestalterischen, topographischen und funktionalen Prinzipien.

Leider hat man heute Vielerorts das Gefühl, daß sich die Entwicklung der Städte in Ägypten in einer Phase der Identitätslosigkeit befinden. Im Innern der Stadt wird weder konsequent abgerissen, noch steht der Abriß in Zusammenhang mit einem stadtgestalterischen Gesamtkonzept. Außerhalb der Stadt entstehen unzählige Neubausiedlungen, die eher einer Zersiedelung entsprechen als einer Erweiterung der Stadt. D.h., es tut sich etwas und zugleich wird man den Eindruck nicht los, daß jemand den Faden verloren hat und nicht mehr aus dem Chaos der Planungsunordnung herausfindet.

Die Frage bleibt, warum die verantwortlichen Entscheidungsträger und die Planer/Architekten nicht aus den bösen Erfahrungen der Europäer lernen wollen, um nicht dieselben gravierenden Fehler, die dort begangen wurden, zu wiederholen.

Es bleibt zu hoffen, daß die Idee des behutsamen Umganges mit der Stadt, ihrer Geschichte und ihren Menschen auch hier alsbald zum Thema der Stadtentwicklungsstrategien wird. Die historische Verantwortung liegt heute in den Händen der lokalen Autoritäten, die dazu aufgerufen sind, sich mit aller Macht die Erhaltung ihrer Städte und des urbanen Lebens in seinem sozialen und ökonomischen Gewordensein zur Aufgabe zu machen, der urbanen Verödung vorzubeugen und damit auch der Erosion der sozialen und kulturellen Identität Einhalt zu gebieten. Daß dies bei entsprechender finanzieller Beteiligung der Bewohner (unterstützt u.a. durch Kreditvergaben und Regelung der Eigentumsverhältnisse), durch Mitbestimmung bei der Projektplanung und -ausführung sowie mit Unterstützung von Selbsthilfeprogrammen letztlich weniger kostet – oder zumindest nicht aufwendiger ist – und mit weniger einschneidenden sozialen Problemen verbunden erreicht werden kann, hat sich in den letzten Jahren an mehreren Projekten weltweit gezeigt.

Anmerkungen:

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Ain el Sira –
ein "Triumph der Phantasie" oder "Architektur des Mangels"

aus "Trialog" Heft 19/1989
von Florian Steinberg

Papyrus-Logo Nr. 3/90, pp. 36—39

Florian Steinberg war mehrere Jahre wissenschaftlicher Mitarbeiter der TU Berlin (Fachgebiet "Planen und Bauen in Entwicklungsländern"); seit 1986 ist er Dozent und Mitglied des Lehrkörpers am Institute for Housing Studies in Rotterdam, für das er z.Zt. in einem Ausbildungsprojekt in Jakarta (Indonesien) arbeitet. Besonders während seiner Berliner Zeit hat sich Steinberg im Rahmen seiner Lehr- und Forschungstätigkeit intensiv mit Kairo beschäftigt. Mehr als Nebenprodukt seiner sehr umfangreichen Arbeiten ist der obige Artikel entstanden, der zuerst im Heft 19 (1989) in der Zeitschrift "TRIALOG" veröffentlicht wurde.
Auf unsere Anfrage hat sich Florian Steinberg ohne Umstände einverstanden erklärt, daß wir seinen Artikel nachdrucken. Die Zeitschrift für das Planen und Bauen in der Dritten Welt, "TRIALOG" gestattet grundsätzlich den Nachdruck ihrer Beiträge, bittet lediglich um Quellenangabe und Übersendung eines Belegexemplares. Dem kommt die PAPYRUS-Redaktion gerne nach und bedankt sich ganz herzlich bei Verfasser und Kollegen von "TRIALOG"!
Hans G.Schild

Da stehen in Kairo seit den 50er Jahren die langweiligsten Kästen des den Armen zugedachten Sozialen Wohnungsbaues, der nach europäischem Vorbild in großer Serie und gemäß der städtebaulichen Ideolgie von CIAM (Anm. 1) gefertigt wurde. Die "offene", lockere Bauweise der in Reih' und Glied stehenden Wohnblocks bewirkt nicht nur, daß die Häuser erbarmungslos der Sonne Ägyptens ausgesetzt sind – von gegenseitiger Verschattung der Gebäude keine Spur –, sondern zwischen den Blocks entstand ein ödes, von Müll und Dreck gefülltes Niemandsland, in dessen Staub sich nur ein paar Fußball-spielende Kinder und die alles fressenden Ziegen herumtreiben.

Die Wohnbauten selbst sind im Laufe der Jahre bei unterlassener Bauinstandsetzung, durch das regelmäßige Leck der Frischwasser- und Abwasserleitungen und durch die intensive Überbelegung der Wohnungen so heruntergekommen, daß sie in unseren Augen schon Slums geworden sind.

So ist dies vielleicht die ganz durchschnittliche Geschichte einer staatlichen, "modernen" Wohnsiedlung im Orient, die jeglichen Bezug zur städtebaulichen und architektonischen Landestradition hinter sich gelassen hat – und Beispiel für verfehlte Baupolitik ist, ein unpassendes Abziehbild der industriellen Wohnkultur. Es ließe sich noch weiter ausführen, wie durch eine entfremdende Umwelt den Menschen mehr und mehr die Möglichkeiten des individuellen Einflusses auf ihre eigene Umgebung genommen wird, wie durch diese schlüsselfertigen Wohnkisten, die man nicht ändern oder erweitern kann, ein statisches Bild von Architektur entsteht...

Eine genauere Besichtigung von Ain el-Sira, einer dieser Wohnsiedlungen in Kairo (südwestlich der Zitadelle gelegen), bringt Überraschung und ein ganz anderes Bild:

Aufgrund des Platzmangels der winzigen 2—3 Zimmer-Appartements (in denen durchschnittlich 5—10 Personen leben) sind die meisten Balkons zu Schlafzimmern, zu Abstellflächen oder zur Kleintierhaltung ausgebaut. Kein Balkon gleicht mehr dem anderen, sowohl in der Art der Umnutzung wie auch in der Farbigkeit und dem benutzten Baumaterial. Die Ökonomie des Raumes hat es weiterhin auch begünstigt, daß die Mehrzahl der Familien an den Außenwänden Tauben- und Hühnerkäfige freischwebend befestigt hat; die Fassaden sind von zum Trocknen aufgehängter Wäsche überzogen. Doch damit nicht genug: Der Maler Hundertwasser (und nicht nur er!) müßte seine helle Freude daran haben, die farbigen von den Mietern selbst ausgeführten Fensterummalungen zu sehen, welche ebenfalls in ihren Farben variieren und zusätzlich noch kleine Gemälde von Mekka-Wallfahrten und anderem enthalten.

Den unvorbereiteten Besucher erwarten sodann noch weitere Überraschungen. Plötzlich entdeckt man die ersten Anbauten. Ein Zimmer im Parterre einfach vor die Fassade des Blocks gesetzt; ein paar Schritte weiter hat sich gleicher Prozeß wiederholt, und der Mieter aus dem ersten Obergeschoß hat einen ähnlichen An-/Vorbau als Grundlage für seine eigene Wohnungserweiterung genutzt. Aufregender und gewagter erscheint dann der quasi umgekehrte Prozeß: Zum Beispiel haben die Bewohner von Wohnungen im zweiten Obergeschoß ihren Wunsch nach Wohnungserweiterung durch ein auf einem Stützenskelett aufliegendes und aus der Fassade weit hervorspringendes ca. 25 qm großes Zimmer realisiert! Oder wer hätte je daran gedacht, daß man nach Umwandlung seines Balkons in ein "festes" Zimmer sich den Wunsch nach einem neuen Balkon im wesentlichen dadurch erfüllt, daß zwei Balken vom Innenraum durch die Fassade stoßen, nach außen kragen und Aufleger für die neue Konstruktion sind?

Die Schilderung dieser überraschenden und ungewöhnlichen Veränderungen ließe sich durch zahlreiche Beispiele noch variieren. Grundsätzlich ist der Trend hier jedoch immer ähnlich: Es bilden sich durch geschoßweise An- und Aufbauten an die vormals rechteckigen Wohn"kisten" neue "Seitenflügel" und zweiseitig angebaute "Ecklösungen"; im Erdgeschoß werden die neu hinzugewonnenen Flächen oft für Gewerbe und kleine Läden benutzt. Die weitere Dynamik des Ausbauprozesses zeigt sich in der Aneignung von Dachgeschossen, auf denen die ersten Zimmer und Wohnungen schon gebaut sind oder große Ziegelsteinlager die Bauabsicht andeuten. Hinzu kommen inzwischen zaghafte Versuche, hier und da private Hausgärten anzulegen, das öde Niemandsland durch Begrünung anzueignen.

Wie läßt sich dieser ungewöhnliche Umbau- und räumliche Aneignungsprozeß in der Sozialbausiedlung von Ain el-Sira interpretieren? Ein wesentliches Motiv dieser Bauaktivitäten wurde schon mit der bestehenden Raumknappheit der Wohnung und deren Überbelegung benannt. Als weiterer Aspekt kommt die weitgehend fehlende Bauinstandhaltung durch den staatlichen Bauträger hinzu: Die Bauten sind einerseits der baulichen Verwahrlosung preisgegeben, andererseits wird durch die entfallende Bauaufsicht (Anm. 2) erst die private Bauaktivität in den beschriebenen Formen möglich und stimuliert. Also ist, kraß ausgedrückt, die Notlage und Überlastung der Baubehörden verantwortlich für die Vergrößerung von bestehenden Wohnungen. Die Situation mangelhafter Wohnungsversorgung in Kombination mit staatlicher Toleranz führt zu einer baulichen, räumlichen Aneignung und der phantasievollen Umgestaltung einer einfachen, abwechslungslosen Massenunterkunft.

Die hier vorgestellte Situation mag für das westliche (oder westlich "geschulte") Architektenauge vielleicht immer noch stark an einen Slum erinnern und ästhetisch eher abstoßen. Doch gleichzeitig bietet Ain el-Sira eine Faszination des "Ungewollten": Es ist starre, geplante Architektur plus phantasievolle Weiterentwicklung durch Auflösung der alten Normen durch "Architektur ohne Architekten"! Das starre System hat sich als eine offene, frei kombinierbare Bauweise entpuppt. Es klingt wie eine Bestätigung des Grußes aus Utopia: "... die Leute... übernahmen ganz einfach die Wohnblöcke, in denen sie wohnten, und bauten sie nach und nach um. Einige von den Häusern stehen noch zum Gedenken an diese Zeit. "

Während der letzten Jahre hat sich interessanterweise die Ansicht gebildet, daß viele Prozesse der Dritten Welt auch Signalwirkung haben und uns Beispiele für eine andere, alternative Sicht der Stadtentwicklung und Wohnungsversorgung hier geben können – und somit ein zweiseitiger Lernprozeß im Gange ist. Das Beispiel von Ain el-Sira, das sich in anderen Neubaugebieten von Kairo in ähnlicher Weise zu wiederholen scheint, dort aber noch nicht zu solch umfangreichen baulichen Veränderungen geführt hart, stellt bisherige Ansichten über den statischen Charakter von modernen Sozialbausiedlungen in Frage. Offensichtlich wirkt es sich positiv aus, daß eine "liberale" (weil nicht effektive) Bauaufsicht existiert. Aus der Not des beengten Wohnens konnte so eine freie Bauinitiative der Bewohner entstehen. Gleichzeitig konnte sich die bestehende Unzufriedenheit über das von den Planern und Architekten "verunstaltete" Environment durch Eigeninitiative ein Ventil suchen.

Blicken wir zurück in unsere Umwelt, wo eigenmächtige Veränderungen eines Fensteraußenanstrichs schon wahre Proteststürme von Hauseigentümern und Mitmietern auslösen können, so ist das Beispiel von Ain el-Sira nur eine ferne "Vision" oder "Fata Morgana". Trotz alledem möchte man sich gerne vorstellen, was aus Neu-Kranichstein, aus dem Märkischen Viertel oder der Gropiusstadt unter gleichen Entwicklungsbedingungen werden könnte...

Bei der Besichtigung Ain el-Sira's und einem ersten Versuch, die bestaunte "anonyme Architektur" zu fotografieren, kam alles andere als Begeisterung auf, vielmehr zeigte man Unverständnis für das "kuriose" Interesse der Ausländer. Ein Zivilpolizist beschlagnahmte die Filme mit dem Hinweis, doch lieber Pharaonisches in Luxor zu besichtigen.

Anmerkungen
    • Anm. 1 
      CIAM, Congrès International d'Architecture moderne, fand zwischen 1928 und 1959 zehnmal statt. Verabschiedete 1933 unter maßgeblicher Beteiligung von Le Corbusier die "Charta von Athen", in der Grundsätze für einen modernen, zukunftsweisenden Städtebau formuliert wurden. (Anm. d. Redaktion)
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    • Anm. 2 
      Antiquiert, aber für viele verständlicher auch Baupolizei genannt (Anm. d. Redaktion)
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Punkt Punkt Punkt

 

 

Wohnungsnot in Kairo – Verslumt die Stadt?
von "Aki Hart"

Papyrus-Logo Nr. 1—2/91, pp. 30—37

Was eigentlich ist ein "Slum"? Im ursprünglichen Sinn des in Großbritannien und den USA geprägten Begriffes wird darunter ein degradiertes ("heruntergekommenes") Wohngebiet verstanden, welches vorher eine erheblich bessere Lebensqualität aufwies. In den Ländern der sogenannten Dritten Welt ist dieser Begriff in den überwiegenden Fällen nicht adäquat. In Lateinamerika wird von "Favelas", im französischsprachigen Afrika von "bidonvilles", in der Türkei von "Geçekondus" gesprochen. Dabei muß betont werden, daß zwischen "Slums" (ein Begriff, den ich trotz des Gesagten zur Vereinfachung verwende) in den einzelnen Ländern der Dritten Welt erhebliche Unterschiede bestehen und Kairo – was das Ausmaß der Probleme betrifft – nicht repräsentativ ist. Es gibt in Kairo meines Wissens keine flächenhaft großen Stadtrandsiedlungen mit Elendsquartieren aus Wellblech oder Brettern wie in vielen anderen Großstädten der Dritten Welt. Gleichwohl wird in vielen Publikationen der Eindruck erweckt, Kairo sei in ähnlicher Weise "verslumt" wie beispielsweise Lagos, Khartoum, Kalkutta oder Rio de Janeiro.
Es erscheint mir notwendig, einige Kairener Viertel näher anzuschauen, um derartigen voreiligen Beurteilungen entgegenzutreten.

Es gilt, sich vor allem darüber bewußt zu werden, daß keines dieser Viertel dem anderen gleicht, weder in den Ursachen von Problemen, noch in den Folgen. Kairo läßt sich nicht schwarz-weiß, d.h. in bessere und schlechtere Wohngegenden unterteilen; eine Grenze läßt sich kaum ziehen.

Versteht man unter Slums im weitesten Sinne städtische Wohngebiete, die durch schlechte bauliche, sanitäre, und hygienische Verhältnisse gekennzeichnet sind und i.d.R. von Angehörigen der sozialen Unterschicht bewohnt werden, so kann sicherlich ein großer Teil, insbesondere neuere Siedlungen der Fläche Kairos als "Slum" bezeichnet werden. In vielen Fällen geht die Entwicklung zwar nur langsam vonstatten und die Lebensbedingungen sind schwierig genug, um die Bezeichnung "Slum" zu rechtfertigen, doch oft handelt es sich lediglich um eine noch nicht abgeschlossene Bebauung, bildlich gesprochen um Baustellen ganzer Stadtviertel, in welche die Anwohner bereits eingezogen sind, also nicht – wie in vielen anderen Fällen – um behelfsmäßige Notquartiere von kurzer Lebensdauer. Bestimmte Viertel als "Slum" abzuqualifizieren bedeutet auch, mit zweierlei Elle zu messen. Wenn bestimmte städtische Erscheinungen wie unasphaltierte Straßen voller Müll als Zeichen für ein Elendsquartier genommen werden, wird einerseits übersehen, daß die eigentlichen Häuser und Wohnungen durchaus einem städtischen Standard entsprechen, andererseits stellt sich die Frage, wie denn dann Dörfer und Landstädte zu bezeichnen sind, aus denen die Bewohner dieser Viertel oftmals stammen. Es wird auch leicht übersehen, daß die Wohnverhältnisse in der Stadt, das Angebot an Geschäften, die Versorgung mit Wasser und Strom aus der Sicht des Zuwanderers weitaus besser sind als in seinem Herkunftsort.

Die Abgrenzung von Slums gerade aus Sicht der Industrieländer bereitet Schwierigkeiten. Der äthiopische Urbanist Okpala kritisiert m.M. zu Recht, daß urbanen Untersuchungen (durch Europäer) in afrikanischen Ländern oftmals unkritische Übertragungen westlicher Begriffe, Urteile und Leitbilder zugrunde liegen und somit auch Transfers kultureller Werte. Generell werden diese Ansätze ohne ausreichende Beachtung einheimischer sozioökonomischer Verhältnisse und Wertesysteme als alleingültige Bewertungsmaßstäbe angewandt. Dies führt beispielsweise zu Untersuchungsergebnissen, wie dem, daß in Afrika nur etwa 5% der Bevölkerung in "ordentlicher Häusern" lebt und 70% der Bevölkerung in den meisten afrikanischen Städten in überbelegten Wohnungen, Hüttensiedlungen oder Slums leben (UN-Untersuchung 1962). Kriterien zur Definition von "ordentlicher" oder "unannehmbarer Behausung", auf denen viele Beurteilungen basieren, werden nicht angegeben. So werden Bauten aus Lehm oder Flechtwerk zu "Hütten" – die notwendigerweise als "schlechte" Behausungen qualifiziert werden –, obschon eine derartige Bauweise in vielen Ländern Afrikas die traditionelle, dem Klima angepaßte und den Lebensgewohnheiten entsprechende Bauweise ist. So wird impliziert, daß mangelhafte Wasserversorgung, gemeinsame sanitäre Anlagen oder die Abwesenheit eines Abwassersystems konstituierende Elemente eines Slums seien. Mehr als zwei Bewohner eines Raumes bedeuten Überbelegung – wobei wiederum die Lebensgewohnheiten vernachlässigt werden, z.B. daß in afrikanischen Gesellschaften sehr viel Zeit außer Haus verbracht wird. Das Haus spielt eine wesentlich geringere Rolle im Leben der Bevölkerung als beispielsweise in Europa, wo es als Schutz vor Regen und Kälte dient, und die Bewohner erheblich mehr Zeit in ihm verbringen.

Auch wenn viele Wohnungen aus traditionellen Materialien oder im Falle informeller Siedlungen ohne Rechtstitel und behördliches Einverständnis errichtet werden, so ist ihr Standard nicht notwendigerweise unakzeptabel niedrig. Im allgemeinen sind die von Siedlern errichteten Häuser recht solide gebaut, ländliche Zuwanderer bringen das Können mit, billig und schnell anspruchslose Zweiraum-Häuser zu erstellen, die später oft aufgestockt werden. Viele informelle Siedlungen verbessern sich im Laufe der Zeit, andere freilich verkommen zu echten Slums, insbesondere durch mangelhafte Entwicklung der Infrastruktur. Diese Siedlungen rund um Kairo sollten als Ausdruck eines (normalen) Wachstumsprozesses der Stadt unter der Bedingung einer rapiden Verstädterung des Ballungsraumes gesehen werden.

Zu beachten ist auch, daß das Leben im Innenstadt-Slum – und der potentielle Zuwanderer weiß, daß er in einen solchen ziehen muß – für ihn trotz allem eine Reihe sozialer und ökonomischer Vorteile bietet. So bedeutet die Nähe innerstädtischer Slums zum Stadtzentrum – wo die Hauptnachfrage nach ungelernten Arbeitskräften besteht – eine Verringerung oder gar den Wegfall von Transportkosten, die in Kairo sehr teuer wie eine Mahlzeit zu stehen kommen können.

Auch gegenseitige Hilfe und Unterstützung sind in Slums oft selbstverständlich, was in Ägypten, einem Land ohne Altersversorgung und Arbeitslosenunterstützung, sehr wichtig ist.

Vor diesem Hintergrund läßt sich für Kairo als wichtigstes Merkmal von "Slums" festhalten, daß sie über keinen urbanen Standard verfügen, insbesondere nicht oder nur ungenügend an das städtische Versorgungs- und Infrastrukturnetz angeschlossen sind, und daß eine starke Diskrepanz zu den in Kairo als befriedigend angesehenen Lebensbedingungen anderer Viertel besteht.

Das Wohnungsproblem

Das Wachstum Kairos ist eng verbunden mit Unterkunftsproblemen der Zuwanderer. Um dem Bevölkerungszuwachs Rechnung zu tragen, müßten von 1987 bis 2000 zusätzlich 1,2 Mio. Wohnungen gebaut werden, doch schon der Bedarf der bis 1987 geborenen und zugewanderten Bevölkerung konnte nicht gedeckt werden. Versuche von privatem und öffentlichem Sektor, der Nachfrage gerecht zu werden, bleiben meist unkoordiniert. Der staatliche Wohnungsbau trug bislang immerhin dazu bei, daß echte Elendsquartiere in Kairo eher Ausnahmen bilden. Schwerwiegender erscheint, daß vorhandener Wohnraum, besonders in älteren Stadtteilen zunehmend verfällt, weil die Mieteinnahmen der Besitzer nicht einmal für die notdürftigsten Instandsetzungsarbeiten ausreichen. Der Besitzer eines zweitürmigen vierzehnstöckigen Hochhauses in bester Geschäftslage hat beispielsweise jährliche Mieteinnahmen von etwa 7.400 DM. Die Reparatur einer tragenden Säule kostete ihn 1988 fünf Jahresmieten.

Mietkontrollgesetze, ursprünglich geschaffen zum Schutz der ärmeren Bevölkerung, haben akute Marktverzerrungen hervorgerufen. Dies betrifft nicht nur die Sanierung von Altbauten, sondern auch den Neubau. Im Vergleich zu den zum Hausbau benötigten hohen Investitionen können per Gesetz verordnete niedrige Mieten kaum die Kosten des Investors decken. Diese auf die Nasser-Zeit zurückgehenden Mietgesetze garantieren das Wohnen in unmöblierten Altbauten zu eingefrorenen Mieten von oft nur etwa 15 DM/Monat, solange die Bewohner oder dessen Nachkommen nicht ausziehen. Diese Mietpreisregelung wird umgangen, indem neue Mieter beim Einzug in Wohnungen, deren offizielle Miete ein Viertel eines durchschnittlichen mittleren Angestelltengehaltes beträgt, dem Vermieter das Hundertfache eines solchen Gehaltes als "verlorenen Baukostenzuschuß", genannt "Schlüsselgeld", zahlen. Dieser offiziell verbotene Mietabstand betrug schon 1979 zwischen 3.000 und 30.000 DM. Möblierte Wohnungen hingegen unterliegen nicht dem Mietgesetz und können – auch ohne Schlüsselgeld – zu meist überhöhten Preisen vermietet werden. Dies soll schon dazu geführt haben, daß die meisten Kairener heute mit 26, statt wie früher mit 20 Jahren heiraten, weil sie sich keine Wohnung leisten können. Es wurden auch Fälle bekannt, in denen 20.000 ursprüngliche Inhaber ihre Sozialwohnungen an vermögende Mieter zum 90fachen ihrer ursprünglichen Miete abgaben. Selbst in Slums ist die Miete relativ hoch. Es ist zu einer paradoxen Lage gekommen: Während die Zahl von Wohnungen minderer Qualität in wuchernden Siedlungen steigt, sollen über 500.000 Wohnungen leerstehen, die für untere Einkommensschichten unerschwinglich sind. Dies kann als Ergebnis der Politik der 70er Jahre gesehen werden, als der Staat den Bausektor immer mehr privaten Baufirmen überließ, die aus normalen Rentabilitätsgründen bei steigenden Lohn- und Materialkosten nicht am Bau billiger Wohnungen interessiert waren und sind.

Slumähnliche Zonen finden sich in Kairo in zwei Zonen: In der Innenstadt und in städtischen Randlagen.

Folgende Tendenzen lassen sich unterscheiden:
a) Verfall der Altstadt

Die Altstadt kann als Slum bezeichnet werden. Sie ist ein Slum aufgrund von Art und Alter der Bausubstanz. Die Wohnungsnot ist das Dilemma der Altstadt überhaupt, der Verfall der alten Bausubstanz scheint durch das Fehlen jeglicher Investitionen unaufhaltsam voranzuschreiten. In den 60er Jahren wurde die Altstadt vor allem durch den Exodus wohlhabender Kreise und die Abwanderung von Teilen des Handels zum Zuzugsgebiet ländlicher Zuwanderer. Sie ist heute ein typisches Beispiel eines degradierten ehemals besseren Wohngebietes. Die Volkszählung von 1976 ergab hier Bevölkerungsdichten von bis zu 1.300 Menschen/ha. Jeder verfügbare Wohnraum wird ausgenutzt, Dächer werden aufgestockt, sogar Sackgassen werden zugebaut. Einige Moscheen der Altstadt, u.a. auch solche, die zu verfallen drohen, sind von Wohnungslosen besetzt worden. In Esbat et-Turgoman, am Rande des übervölkerten Stadtteils Boulaq, lebten bis zu drei Familien in einer Zweizimmerwohnung ohne Küche und Toilette. 1981/82 wurde die gesamte Siedlung abgerissen, heute befindet sich dort ein riesiger Parkplatz. Im Stadtteil Bab as-Shariya drängen sich auf einem km² 153.000 Menschen, mehr als dreimal so viele wie in den Slums von Kalkutta. Im Kern der Altstadt sind es bis zu 140.000 Einwohner/km². (In Rod el-Farag und in der Shubra sind es noch 107.000.)

Zwar entstanden seit Mitte und Ende der 70er Jahre einige Hochhäuser, doch ist der neue Wohnraum für viele nicht finanzierbar. Im Stadtteil Gamaliya, aber auch in anderen Vierteln, stürzen immer wieder mehrstöckige und überbelegte Wohnhäuser in sich zusammen, weil das Drainagesystem die Grundmauern unterspült hat, weil der sandige, von Grundwasser ausgehöhlte Boden absinkt oder weil – bei Neubauten oft der Fall – die Statik unzulänglich war oder aufgrund hoher Zementpreise die Bausubstanz mit Sand gestreckt wurde. Angesichts des Zustromes von Familien die bereit sind (besser: die gezwungen sind!), zu acht Personen in einem Zimmer zu leben, vergrößern die Besitzer den Wohnraum und stocken die Häuser um teilweise mehrere Etagen auf, ohne sich um die Tragfähigkeit der Fundamente zu sorgen.

Im Winter 1982 hieß es, 600.000 der damals insgesamt 1,5 Mio. Wohnungen seien akut einsturzgefährdet. 1988 hieß es, 40% der Häuser seien baufällig. Als einer der Gründe für den schlechten Zustand vieler Häuser wird die "Sparsamkeit" vieler privater Bauherren angegeben, die oft auf Ingenieure verzichteten und ohne Baugenehmigung bauten, sowie mangels Mieteinnahmen keine Reparaturen übernehmen. Es sind Fälle bekannt, in denen Mieter "Persilscheine" für den Hausbesitzer unterschreiben : "Wir leben auf eigene Gefahr in unseren baufälligen Wohnungen. Im Schadensfall trägt der Hausbesitzer keine Schuld." Der Abriß vieler Häuser ist von den Behörden längst "vorgesehen", doch fehlen alternative Unterbringungsmöglichkeiten. Eine konsequente Sanierung wurde durch Geldmangel und soziale Probleme bisher verhindert.

b) Die Besiedlung der "Totenstädte"

"Die Suche nach Wohnraum in Innenstadtnähe macht vor keinem Hindernis mehr Halt. Die aus dem 13. Jahrhundert stammenden Nekropolen Kairos, v.a. die 'Totenstadt Al Karaafa' werden allmählich auch zu Wohnstädten." So oder so ähnlich liest es sich in vielen Publikationen. Es ist also schon soweit, daß sogar Friedhöfe besiedelt werden – eine solche Story konnten sich Legionen von Journalisten nicht entgehen lassen. Schon 1—2 Millionen Menschen würden dort leben, hieß es auf den "Bunten"-, "Vermischten"- oder "Panorama"-Seiten der Zeitungen, dort, wo auch in seriösen Zeitungen die Sensationslust befriedigt wird. Blindwütige Übertreibungen, entsprechend dem pittoresken Elendsbild, welches dem erschrockenen Leser in der warmen Stube vermittelt werden sollte. Seriöse Untersuchungen schätzen die wahre Bewohnerzahl auf 275.000.

Karikatur
Makler vor der Familiengruft: "Und hiermit haben Sie
dann fürs Leben und fürs Sterben vorgesorgt...!"

Niemanden interessierte, daß die Friedhöfe schon immer bewohnt gewesen sind: von Grabwächterfamilien, aber auch Angestellten von Schulen und anderen Einrichtungen wie religiösen Stiftungen innerhalb großer Mausoleen-Komplexe, Koran-Reziteuren etc.

Obschon vom Gesetz nicht gedeckt, brauchten die frühen Siedler das Gesetz nicht zu fürchten: Die Wohnungsnahme in den festen Grabhäusern aus Stein war weder erlaubt, noch verboten. Es galt lediglich zu vermeiden, die zu Grabstätten gehörenden Familien der Toten gegen sich aufzubringen, welche die Gräber zu Beginn der großen religiösen Feste aufsuchen.

Vielen Angehörigen war und ist es auch durchaus recht, eine Grabwächterfamilie in den Grabhäusern zu wissen. Erst mit dem stärkeren Wachstum Kairos und der beginnenden Knappheit von Wohnraum wurde nach dem ersten Weltkrieg zuerst die südliche Nekropole konkret besiedelt, in dem Sinne, daß Grabhäuser ausgebaut wurden und auch reine Wohnbauten entstanden.

Schon seit den 40er Jahren erforderte das Siedlungswesen die Unterstützung der Stadtverwaltung, welche öffentliche Wasserzapfstellen errichtete. Die Mehrzahl der Grabhäuser in bestimmten Friedhofsvierteln ist heute vollständig für die Bedürfnisse der Lebenden umgerüstet worden, einige haben Anbauten oder bekamen ein Stockwerk aufgesetzt. Fließendes Wasser, Strom und Flaschengas garantieren seit den 60er Jahren ein Minimum an Lebensqualität. Allerdings haben die meisten der neu niedergelassenen Siedler diese Ausstattung noch nicht, insbesondere in der nun auch besiedelten nördlichen Totenstadt, die unmittelbar an die Altstadt angrenzt. Auf den unbefestigten Gassen verkehren Autos und Busse, sogar per Straßenbahn gelangt man mitten in den Friedhof. Das Leben ist alles in allem komfortabler, als in vielen Altstadtvierteln. Während die nördliche und südliche Totenstadt rein äußerlich unbelebt wirken, ist der bereits im 13. Jahrhundert besiedelte Bab al-Nasr-Friedhof hinter den Stadtmauern im Norden der Altstadt auf den ersten Blick nicht mehr als Grabanlage zu erkennen. Viele Bewohner haben ihr Anwesen mit mannshohen Sichtwällen aus Brettern oder lose aufgeschichteten Steinen gegen fremde Blicke abgesichert. Der Friedhofswärter vermietet die Grabgebäude für etwa 5 DM. Diese Totenstadt ist im Gegensatz zu den oben genannten nicht nach einem geplanten Schachbrettmuster angelegt, sondern besteht aus einem Labyrinth aus Zickzackgassen und ist kaum mit Infrastruktur ausgestattet. Trinkwasser muß in Aluminiumtonnen herbeigeschafft werden, Kerosinlampen spenden Licht, Fernseher werden aus Autobatterien gespeist oder aus eigenhändig verlegten Stromleitungen aus den umgebenden Wohnsiedlungen, für die eine monatliche Pauschale zu zahlen ist. Die Behörden haben ihre Versuche (u.a. 1960) aufgegeben, die Siedler zu vertreiben und haben begonnen, die Häuser an das zentrale Wasser- und Stromnetz anzuschließen.

c) informelle Siedlungen

Der Aufgabe, billige Wohnungen bereitzustellen, ist der Staat nicht gewachsen. Großenteils läßt er den Wohnungssuchenden "freie Hand". Entsprechend hat sich der größte Teil der Wohnungssuchenden in weitgehend unkontrollierten Siedlungen ohne behördliche Genehmigung rund um die Stadt angesiedelt. Eine besondere Brisanz erhält diese Entwicklung dadurch, daß sich dieser Ring von Siedlungen fast ausschließlich auf ehemals fruchtbarem Bewässerungsland um Kairo erstreckt. 70 bis 80% der jährlich gebauten Häuser befinden sich auf Ackerland, 500 Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche gehen jährlich verloren. Einst zogen sich informelle Siedlungen nur längs den Bewässerungskanälen und Einfallstraßen entlang, heute werden Kanäle zugeschüttet und zu Hauptverkehrsadern der neuen Viertel. Der Staat "schließt die Augen", er kann keine Alternativen bieten. Nachträglich werden diese Siedlungen oft sogar legalisiert und mit der meist fehlenden Basisinfrastruktur ausgestattet. De facto haben viele einen besseren Standard und sind weniger überfüllt als legale Siedlungen oder staatliche Sozialbauten. Bei der gegebenen administrativen Schwäche der ägyptischen Bürokratie läßt sich vermuten, daß die Lebensbedingungen in Kairo erheblich schlechter wären, wenn bei Siedlungsvorhaben auf die offizielle Erlaubnis der Behörden gewartet werden müßte. Mängel des Versorgungssystems werden oft in Eigeninitiative überbrückt. Diese Siedlungen sollten auch, nicht ausschließlich, aus einer mehr dynamischen Perspektive betrachtet werden: Siedlungen im Prozeß einer Verbesserung. Sie haben das Potential, integrierte Bestandteile der Stadt zu werden, weil diese weiter wächst und sie oft rasch eingliedert.

So beschrieb Thierbach 1959 quadratkilometerweise Slumsiedlungen im Osten und Nordosten Kairos – des heutigen "Shubra". Dort fand er "Lehmlöcher und Notbaracken ohne elektrisches Licht und ohne jede Hygiene, wimmelnd von armselig gekleideten Menschen". Die meisten dieser Notunterkünfte entstanden nach dem zweiten Weltkrieg, als trotz reger Bautätigkeit für Zuwanderer kein Unterkommen zu finden war. Heute kann die Shubra nicht mehr als Slum bezeichnet werden, wenngleich lediglich zwei große Nord-Süd-Verbindungen asphaltiert sind. Kilometerweit stehen 2- bis 3-stöckige Gebäude auf Ackerland, Müll und Schlamm der Gassen werden im Winter zu einer unbegehbaren Masse, doch sind die Wohnungen längst legalisiert und an das städtische Infrastrukturnetz angeschlossen.

Eine jüngere informelle Siedlung ist Boulaq Al-Dakrour, westlich des Nils, unmittelbar hinter modernen Appartement-Hochhäusern von Mohandessin und Dokki. Etwa 800.000 Menschen leben dort in 3- bis 4-stöckigen Häusern, im Schnitt teilen sich 4,5 Personen einen Raum. Noch 1970 war hier ein Bauerndorf. Die Gassen sind nur zwischen 3 und 5 Meter breit und unbefestigt. Es existieren keine staatlichen Schulen, keine Spielplätze oder offene Flächen, keine Polizeistation. Ambulanzen, Müllkarren oder Feuerwehrwagen können die Siedlung nur auf Hauptstraßen befahren, lediglich von den Moscheen werden Unterricht und Krankenhäuser organisiert.

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Punkt Punkt Punkt

   

Max Herz Pascha
Ägyptens bedeutendster Architekt und Retter der islamischen Bauwerke Kairos vor 1914

von Rudolf Agstner

Papyrus-Logo Nr. 03—04/97, pp. 39—46

Zum Symposium "Europäische Architektur im 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts"
Italienisches Kulturinstitut Kairo, 2.—3. März 1997

Dem Touristen, der von der Kairoer Zitadelle nach Nordwesten blickt, liegen die Sultan Hassan und die Rifai-Moschee und die Altstadt der Nilmetropole mit ihren eindrucksvollen islamischen Bauwerken zu Füßen. Wer nach Besichtigung dieser prachtvollen Bauwerke sich in islamischer Kunst weiterbilden will, besucht das islamische Museum an Kairos Port Said-Straße.

Die 1912 fertiggestellte Rifai-Moschee, die Grablege der ägyptischen Könige Fuad I. und seines Sohnes Farouk I. sowie von dessen kurzfristigen Schwager, dem Schah-in-Schah des Iran, Reza Pahlewi I., und das islamische Museum verdanken ihre Entstehung demselben Architekten, der in den 2 Dezennien vor dem 1. Weltkrieg die Monumente der Kairoer Altstadt vor dem Zerfall bewahrte. Dieser war auch Autor eines grundlegenden Werkes über die Sultan-Hassan-Moschee, das vor 100 Jahren erschienen ist. Sein Name: Max Herz. Vor dem 1. Weltkrieg zum Pascha geadelt, ist sein Name heute in Vergessenheit geraten und nur mehr Experten islamischer Baukunst geläufig.

Max – laut Geburtsurkunde "Meyer" – Herz wurde am 19. Mai 1856 in einem kleinen Dorf bei Ottlaka im Bezirk Arad im ungarischen Banat (heute Graniceri, Rumänien) als Sohn des Ignaz Herz geboren. Der Vater war wahrscheinlich Lehrer; die Mutter hieß Rosenfeld und starb früh. Der Vater zog nach dem Tod seiner Frau mit seinen 7 Kindern nach Temesvar in Ungarn (heute Timosoara, Rumänien), wo Max Herz die Hauptrealschule absolvierte. 1876/77 studierte Herz Architektur an der Technischen Hochschule in Budapest, hörte anschließend drei Jahre Vorlesungen zu dieser Fachrichtung an der Technischen Hochschule in Wien und kehrte 1880 nach Budapest zurück, wo er sein Studium beendete. In Wien lebte Herz mit seinem Vater und drei Brüdern im 2. Bezirk an der Donaulände. Die Familie blieb später in Wien; der älteste Bruder lebte in Wien IX, Berggasse 30; auf Nr. 19 lebte ein Arzt, der später weltberühmt werden sollte – Siegmund Freud.

Er folgte der Einladung einer Familie, sie nach Italien und Ägypten zu begleiten, und trat 1882 auf Vorschlag der ägyptischen Regierung in das Technische Büro im Ministerium für Kultus ein, das von dem Deutschen Julius Franz bis 1887 geleitet wurde. Daneben arbeitete Herz, der sich nunmehr "Max" oder ungarisch "Miksa" Herz nennt, als Assistent von Franz in dem vom Khediven Tawfik gegründeten Comité de conservation des monuments de l'art arabe in Kairo und wurde 1888, nach der Pensionierung von Franz, zum Chefarchitekten dieses Komitees und zum Chef-Konservator der arabischen Baudenkmale im ägyptischen Ministerium für religiöse Stiftungen (waqf) ernannt. Am 20. April 1892 wurde Max Herz mit der Leitung des von Julius Franz aufgebauten Arabischen Museums in der al-Hakim-Moschee betraut. Dieses wurde am 28. Dezember 1903 als Museum für Islamische Kunst gemeinsam mit der vizeköniglichen Bibliothek (heute: Arabische Bibliothek) in einem von Max Herz an der Port Said-Straße im neo-islamischen Stil errichteten Neubau untergebracht, wo es sich auch heute noch befindet (die Zuschreibung dieses Gebäudes an Herz ist umstritten; anderen Quellen zufolge wurde es von A.Manescalso entworfen).

Max Herz erweiterte die Sammlungen des Museums, inventarisierte sie und verfaßte 1895 den ersten Catalogue raisonné des monuments exposés dans le Musée national de l'art arabe; weitere Auflagen folgten 1896 in englischer Sprache, 1906 in französisch und 1907 in englisch. 1890 wurde Max Herz Mitglied des Comité International des Monuments Section d'Orient und 1891 Mitglied des Institut d'Egypte.

Auch in den USA hinterließ Max Herz – allerdings nur kurzlebige – architektonische Spuren. Anläßlich der Weltausstellung von Chicago im Jahre 1893 beauftragte die ägyptische Regierung Max Herz mit der Durchführung der ägyptischen Beteiligung und Aufsicht über die Arbeiten an der in Chicago zu errichtenden Cairo Street. Herz schuf, unter Mitwirkung seines aus Wien stammenden Assistenten Eduard Matasek (siehe Papyrus 01—02/96, S. 62—66) eine typische Kairoer Straße, nicht das Abbild einer bestimmten, sondern eine Kombination der schönsten Werke der Architektur Kairos: Häuser, Geschäfte, Moschee mit Minarett und Brunnen.

Am 11. Februar 1893 schiffte sich Herz in Liverpool auf den Cunard-Dampfer "Aurania" nach New York ein, und schon am 12. März zierte Max Herz "the Cairo architect who planned the Exposition Cairo Street" die Titelseite des Inter Ocean Literary Supplement. Die von Herz für die Ausstellung entworfene Straße lag im Zentrum des Ausstellungsareals im Schatten des riesigen "Ferris Wheel", und war ein Anziehungspunkt derselben. Herz hatte an alles gedacht – nicht nur an Architektur. Ägyptische Kaufleute, Arbeiter, Bewohner mit Frauen und Kindern, Esel, Kamele – alles aus Kairo mitgebracht – bevölkerten die Cairo Street, die eine Attraktion ersten Ranges im Mittleren Westen wurde.

Am 5. September 1895 heiratete Max Ernst, inzwischen zum "Bey" geadelt, in Mailand die 18jährige Lina (Perla) Colorni.

Herz erlernte die arabische Hochsprache, arbeitete in Archiven und befaßte sich mit alten Handschriften. So entstand 1899 die Monographie über die zwischen 1356 und 1359 erbaute und in der Zwischenzeit verfallene Sultan Hassan-Moschee La Mosquée du Sultan Hassan au Caire; Herz erreichte jedoch nicht, daß die Moschee restauriert wurde. 1898 restaurierte er die 1475 erbaute Medrese des Qait Bey, und von 1903 bis 1913 widmete er sich der Restaurierung des Mausoleums des Sultan Qalaun; die Restaurierungsarbeiten an der Qalaun-Medrese wurden 1914 infolge der kriegsbedingten Abreise Herz' aus Ägypten unterbrochen.

Dann beschäftigte sich Herz mit dem Wiederaufbau der 1174 von Ahmed el-Rifai gegründeten Moschee, die im 19. Jahrhundert zur Familiengruft der in Ägypten herrschenden Ismaili-Dynastie wurde. Der erste Versuch des Wiederaufbaues dieser Moschee war in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts unterbrochen worden. Herz verkleinerte den Grundriß, und sein Projekt fand die Zustimmung des Khediven Abbas II. Hilmi, der dort auch einmal hätte beerdigt werden sollen. Am 12. April 1906 wurde Herz mitgeteilt, daß sein Projekt angenommen wurde und er beauftragt, sein Projekt durchzuführen. Die Moschee wurde am 2. Dezember 1911 in Anwesenheit des Khediven Abbas II. Hilmi festlich eröffnet. Aus diesem Anlaß erschien auch Max Herz Werk La Mosquée el-Rifai au Caire mit sieben Abbildungen seiner Pläne.

Das Hauptverdienst von Max Herz lag in der Denkmalpflege und dem Denkmalschutz, wobei es sein Bestreben war, die Bauten in ihre Ursprungsform zu bringen. Es gibt kaum eine Moschee, Medrese (Schule), Mausoleum, Sebil (Brunnen) oder Minarett, das nicht von Max Herz untersucht, restauriert oder wissenschaftlich bearbeitet worden wäre. Insgesamt hat sich Herz mit der geradezu unglaublichen Zahl von 359 islamischen Bauwerken in Kairos Altstadt oder Totenstadt beschäftigt:

  • Moscheen:
    Sultan Hassan, Ibn Tulun, Al Azhar, el-Rifai, Aboubakr Mazhar, Sayedna el Yousseff, Aksankur el Nasir, Ahmed, Ganem el Balaouhan, El Naseer, Barkuk, Assan Ashai, Kadi Yehia, Ghuri, Kidymas el Ishaki, An Raumor, Gomar, Aymuar, Salach Talajeh, Gamal ed Din, Sohal a Hala, Mechmendar, Mouayyed, Sayeda Aicha, Almas, Hagarat, Assan Bogha, El Hakim, Az Akmar, Sayyida Rukajjia, Bab en Nasr, As Salih Ajjubfele, Beibars, El Mardani, Qait Bey, Bashtak; Kairoi, Djemal ed-Din, Mus Bakfele, Szalimtala l-Mecsei, Szinam, Az al Bagam, El Bakri, Said el Yousseff, El Khandak, Mohamed Ali (Zitadelle), Malika Safia, Abu es Saud, Mahmoudie, Souk es Silah, El Salahieh, Es Mansour, Soliman
  • Medresen:
    Sultan Baibars, Mansur, Mohamed el Nassir, Kamilieh, Qait Bey, Khair Bey, El Salhieh, Al Azhar
  • Mausoleen:
    Sultan Mohamed el Nassir, Qalaun, El Ghuri, Bob Zoueila
  • Sebils:
    Ghuri, Kuttabja, Sultan Mustafa, Abder Rahman Katkoday, El Mandari, Gamal ed-Din, Qait Bey, Mandari, Mahmud, Dechir Geha; Bai Kikhja, Me Ahhar, Sultan Farag
  • Minarette:
    Ibn Tulun, Al Hakim
  • Gräber:
    Ubbat el Faddaouieh, Mamel, Harem Sultan Barkuk
  • Häuser:
    Beit al qadi (Haus des Richters)
  • Loggien und Portale:
    Schloß des Emir Bashtak, Hofportal des Emir Yuschbak, Palast des Khediven Ismail Pascha, Loggia Gamal ed-Din, Loggia Mamai

Daneben war Herz auch in die Renovierung des Amtssitzes der französischen diplomatischen Agentie in Kairo, vormals Palais des Antiquitätensammlers Charles Gaston de Saint-Maurice, sowie anderer privater Gebäude eingebunden.

Neben seiner offiziellen Tätigkeit als oberster Denkmalschützer Ägyptens plante er mehr als 100 Gebäude in den verschiedensten Stilen, darunter die "Bank al Ikari" (Hypothekenbank) und zwei große Häuser am Opernplatz von Kairo. Eines der schönsten Palais, die Herz meist im maurischen Stil errichtete, entwarf Herz für Graf Zogheb, den dänischen Honorar-Generalkonsul; es erstreckte sich von der Kasr el Nil-Straße zur Champollion-Straße und war zu seiner Zeit so berühmt, daß es im Baedeker erwähnt wurde. Vor rund 20 Jahren abgerissen, steht an der Stelle des Palais Zogheb schräg gegenüber des Ägyptischen Museums am Tahrir-Platz heute eine Plakatwand, die eine ewige Baustelle verdeckt. Schade um dieses Baujuwel...

Herz baute auch seine eigene Villa im maurischen Stil. Diese lag hinter der Semiramisbrücke (Qasr el Nil-Brücke) in der Sharieh Sheik el Barakat (heute: Kamal al Din Huseyn) und hatte die Form eines Minbars. Ein Besucher aus Ungarn bezeichnete sie als Zauberschlößchen. Wann Herz seine Villa baute und wie lange er dort wohnte, ist nicht klar; im Jahre 1914 gab er als Wohnadresse Heliopolis, place de la Reine Elisabeth, imm. 33 an.

Max Herz entfaltete eine umfassende publizistische Tätigkeit. 1887 erscheinen seine ersten Artikel über Kairoer Bauten bzw. arabische Waffen in einer ungarischen Zeitung, aber schon 1889 veröffentlicht er in Paris, 1890 folgt ein Artikel über die Häuser von Rosetta, und in Stuttgart über das Brunnenhaus des Ghuri. 1891 publiziert er in Wien Sur les Monuments d'Egypte und über Die Arabischen Denkmäler Ägyptens und das Komité zu deren Erhaltung. 1893 und 1894 erscheinen in Kairo 2 Studien über die Polychromie in der arabischen Malerei und Architektur in Ägypten, und 1895/96 der erste Katalog des arabischen Nationalmuseums in französischer bzw. englischer Sprache, sowie Les Bassins dans les Sahns des Mosquées. 1898 folgt eine Studie über die Moschee des Emir Ghanem el-Bahlouan, und 1899 über die des Ezbek al-Youssoufi. 1899 erscheinen zwei Artikel in Französisch über Denkmalpflege in Ägypten sowie sein großes Werk über die Sultan Hassan-Moschee. Für den Ägypten-Führer des Österreichischen Lloyd verfaßt er 1902 den Beitrag Arabische Kulturskizzen. 1911 verlegt er in Mailand sein Werk über die Rifai-Moschee.

Bei einer derartig umfassenden publizistischen Tätigkeit ist es nicht verwunderlich, daß Herz 1896 zum korrespondierenden Mitglied der ungarischen Akademie der Wissenschaften gewählt wurde. Er stand mit den führenden Islamisten seiner Zeit in Verbindung, so dem Genfer Professor und Autor des Corpus Studiorum Arabicorum, Max van Berchem.

Max Herz erhielt um 1910 den Titel "Pascha". Daneben erhielt er im Laufe der Jahre zahlreiche Ritterkreuze ausländischer Orden: 1895 französische Ehrenlegion und österr. Franz-Josefs-Orden, 1900 den italienischen Orden der Hl. Maurizius und Lazarus und kön. württembergischen Friedrichs-Orden, 1902 den österreichischen Orden der Eisernen Krone, sowie 1903 einen preußischen und 1909 einen weiteren württembergischen Orden.

Als feindlicher Ausländer mußte Max Herz Pascha nach Ausbruch des 1. Weltkriegs sein geliebtes Ägypten verlassen. Er war dort nicht vergessen. Am 5. Januar 1915 richtete der britische Vertreter in der ägyptischen Staatsschuldenverwaltung an ihn folgenden Brief:
"... Ich wage nicht auf einen zweiten Herz zu hoffen! Wo ist er zu finden? Denken Sie an diejenigen, die ihre Arbeit bewundern, denken Sie an all die Bauwerke, die heute wie Waisen erscheinen. Denken Sie an die immensen Schätze, die Sie in Ihrer Erinnerung haben, vielleicht in Ihren Notizen. Koordinieren Sie, schreiben Sie, veröffentlichen Sie, das ist ein Muß..."

Herz installierte sich zunächst in Mailand. Als Italien am 23. Mai 1915 Österreich-Ungarn den Krieg erklärt hatte, war der Ungar Max Herz neuerlich zum feindlichen Ausländer geworden. Er übersiedelte nach Zürich, wo er seine 4 letzten Lebensjahre in der Turnerstraße 37 verbrachte und seine wissenschaftlichen Publikationen wieder aufnahm. 1917 erschien in der Zeitschrift Der Islam sein Beitrag Babylon und Qasr as-Sam über die Trajansfestung in Old Cairo. Ebenfalls 1917 erschien von Ihm Wohn- und Palastbau in Ägypten seit dem Mittelalter. Der Verlust seiner Heimat, die nach dem 1. Weltkrieg von Ungarn an Rumänien abgetreten werden mußte, traf ihn, Ungar durch und durch, schwer.

Seinen Sehnsuchtstraum konnte er nicht mehr verwirklichen. Er wollte nach seiner Pensionierung als ägyptischer Staatsbeamter "nach Hause" zurückkehren und hatte dem Oberrabbiner von Budapest angeboten, einer jüdischen Gemeinde in Ungarn einen Tempel "in völlig neuem Baustil, eine Vermählung alter Überlieferung und modern auserlesenem Geschmack, unentgeltlich, nur aus Liebe zu Vaterland und Konfession" zu bauen. Es sollte nicht sein. Max Herz-Pascha, vor dem 1. Weltkrieg der bedeutendste Architekt und Denkmalschützer Ägyptens, starb am 5. Mai 1919 in Zürich. Sein Leichnam wurde nach Mailand überführt, wo Herz in einem von ihm selbst entworfenen Grabmal auf dem "Cimitero Monumentale – Reparto Israelitico" begraben ist.

Das Erscheinen seines, dem Andenken des früh verstorbenen Sohnes Geza gewidmeten Werkes Die Baugruppe des Sultans Qalaun in Kairo erlebte Herz nicht mehr. Im Vorwort zu diesem Werk schrieb er im Rückblick auf seine Jahre in Ägypten und die ihm durch den Krieg entstandene Unbill: "Das Comité de conservation des monuments de l'art arabe hatte in dem Vierteljahrhundert seines Bestehens gar zu vielen Aufgaben gerecht zu werden, als daß es der Baugruppe Qalauns seine erschöpfende Fürsorge hätte angedeihen lassen können. Vom Jahre 1903 wurden die Arbeiten am Mausoleum energisch betrieben (dieses prachtvolle Mausoleum kommt heute jedem Ägypten-Touristen 'in die Hände', denn es ist auf der 1-Pfund-Note abgebildet); 1913 wurden sie fertiggestellt und die an der Madrasah in Angriff genommen. Ich konnte noch vor dem Sommer 1914 nicht nur jene Untersuchungen anstellen, welche das Wesen der Madrasah erhellten und eine Richtschnur für die Arbeiten schufen, sondern auch deren größten Teil noch selbst ausführen. Dann kam der Krieg, der auch meiner dreiunddreißigjährigen Tätigkeit im Waqf-Ministerium ein Ende machte....; meine Aufzeichnungen und Skizzen, die Früchte einer Sammeltätigkeit vieler Jahre, sind in Kairo verblieben. Ein glücklicher Zufall rettet einige photographische Aufnahmen herüber, andere, nebst Auskünften, verdanke ich freundlicher Bereitwilligkeit. Allerdings habe ich diese nicht dort gefunden, wo langjährige gemeinsame Arbeit und meine hingebenden Unterweisungen ein Entgegenkommen hätte erwarten lassen dürfen. – Der Krieg !..."

Hier stellt sich dem Leser die Frage, wo die wertvollen Aufzeichnungen von Max Herz Pascha heute in Kairo zu finden sind ... !

Max Herz wurde von seiner Witwe Lina, geb. Colorni, und den Kindern Fanny (geb. Mailand 2.12.1898, gest. Neapel 1981), Theresia (Teri) Clementia Eugenia (geb. Kairo 6.2.1900, gest. Auschwitz 1944) und Evelina Emilie (geb. Mailand 15.6.1902, gest. New York 1996) beerbt. Sein 1897 in Kairo geborener Sohn Geza war schon 1914 in Mailand verstorben.

Max Herz Paschas in Ägypten verbliebenes Vermögen – sein Haus samt Mobiliar – wurde entsprechend Artikel 4 der ägyptischen Proklamation vom 24. November 1920 liquidiert. Zum Glück mußte Max Herz-Pascha nicht mehr erleben, wie man ihn, den Retter der islamischen Bauwerke der Kairoer Altstadt, in seiner zweiten Heimat Ägypten behandelte.... In Ägypten erinnern heute lediglich einige seiner Bücher in der Bibliothek der American University in Cairo, die pikanterweise in der nach seinem Epigonen Creswell genannten Abteilung verwahrt werden, an Max Herz Pascha.

Seine Wahlheimat Italien erwies sich als aufmerksamer. Bei einer 1936 in Neapels "Maschio Angioino"-Palast stattgefundenen Ausstellung über Afrika war ein Raum dem architektonisch-künstlerischen Werk von Max Herz in Ägypten gewidmet. In Neapel lebt auch Ingenieur Paolo Sereni, ein Enkel von Max Herz Pascha, ohne dessen freundliche Hilfe dieser Artikel nicht hätte geschrieben werden können.

Heute befinden sich die für die Denkmalpflege in Ägypten zuständigen Stellen, die Higher Council for Antiquities, das Center for Islamic Architectural Heritage u.a. in einem verzweifelten Wettlauf, dem Verfall der prachtvollen Bauwerke der Kairoer Altstadt Einhalt zu gebieten. Max Herz Pascha hat vor 100 Jahren die Perlen der Architektur Kairos gerettet. Wo ist heute ein Max Herz in Sicht? Er würde jedenfalls dringend benötigt.....

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Ramsis Wissa Wassef –
Traditionelle Bauformen und Kunsthandwerk in Ägypten

von Achim Krekeler

Papyrus-Logo Nr. 1—2/93, pp. 11—17

Wer sich für traditionelle ägyptische Bauformen oder Lehmarchitektur interessiert, dem ist Hassan Fathy, der wohl bekannteste ägyptische Architekt, ein Begriff. Automatisch stößt man bei der Vertiefung in das Thema auch auf Wissa Wassef, den zweiten ägyptischen Architekten, der wie Hassan Fathy versucht hat, wieder landeseigene Elemente – gewachsen aus kulturellem Erbe und bedingt durch klimatische Verhältnisse – in die ägyptische Architektur einzubringen.

Die tradierten Bauformen waren in Ägypten durch den starken europäischen Einfluß auf ländliche Gebiete verdrängt worden; in den Städten hatte man seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts europäische Baustile übernommen. Heute stellt das Stadtzentrum von Kairo den Höhepunkt dieser Entwicklung dar. Es unterscheidet sich kaum noch von denen anderer Metropolen.

Ramsis Wissa Wassef und Hassan Fathy, die sich während ihres Studiums in Frankreich kennengelernt hatten, versuchten, diesem Trend mit ihren eigenen Vorstellungen entgegenzuwirken. Beide blieben nach ihrer Rückkehr in die Heimat eng miteinander verbunden und trafen sich wöchentlich zum Gedankenaustausch. Im Gegensatz zu Hassan Fathy beschränkte sich das Arbeitsfeld von Ramsis Wissa Wassef ausschließlich auf Ägypten, wodurch sein geringerer internationaler Bekanntheitsgrad zu erklären ist.

Es blieb nicht bei der Architektur: Ramsis Wissa Wassef zeichnete sich besonders durch sein soziales Engagement und die Gründung des Kunsthandwerkerzentrums in Harrania bei Kairo aus.

Ramsis Wissa Wassef absolvierte sein Architekturstudium an der Ecole es Beaux Arts in Paris. Im Anschluß an sein Diplom im Jahre 1935 kehrte er nach Ägypten zurück, wo er eine Dozentenstelle für "History of Architecture" an der Architekturabteilung des College of Fine Arts in Kairo übernahm.

Während dieser Zeit beschäftigte er sich intensiv mit den Möglichkeiten, bewährte ägyptische Bauformen und -techniken in eine zeitgemäße Architektur umzusetzen. Dabei sollten moderne Baustoffe nur dort verwendet werden, wo sie den alten überlegen und gestalterisch zu vertreten waren. Auf zahlreichen Reisen durch ländliche Gebiete machte er sich mit den überlieferten Bauweisen vertraut und erlernte den Bau von Kuppeln und Gewölben sowie die Funktionsweise natürlicher Belüftungssysteme.

Seine Eindrücke von der Oberägyptenreise in der Gegend von Assuan beschreibt er wie folgt (sinngemäße Übersetzung): "Von der Schönheit der nubischen Dörfer und Häuser bin ich stark beeindruckt, ich stellte fest, daß es noch immer Maurer gibt, die die alte ägyptische Gewölbebauweise beherrschen. Dieselbe Bautechnik hat sich von den ersten Dynastien, über ca. 4.500 Jahre, bis heute erhalten. Ich beschloß, die Erfahrungen dieser Leute für meine Bauten zu nutzen."

1939 stieg Ramsis Wissa Wassef zum Direktor der Architekturabteilung am "College of Fine Arts" auf.
Für die Gründung seines Handwerkerzentrums in Harrania im Jahre 1951 holte Ramsis Wissa Wassef Maurer aus Oberägypten, die Kuppeln und Gewölbe bauten. Er erhoffte sich von der Wiedereinführung dieser materialsparenden und klimagerechten Dachkonstruktion eine neue Verbreitung durch die lokalen Bauhandwerker. Zusammen mit den Bauleuten aus Oberägypten bildete er ortsansässige junge Leute in der Gewölbe- und Kuppelbauweise aus. Probeprojekt seiner Schüler war ein Hühnerstall mit kleinen Silos in Harrania. Weitere Bauten wie die Weberei, das Habib-Georgy-Skulpturen-Museum und verschiedene Wohnbauten folgten bis 1970 in Harrania. Die ersten errichtete er noch aus ungebrannten Lehmziegeln und -mörtel. Später wechselte er über zu Mauerwerk aus gebrochenen Kalksteinen, die mit Lehmmörtel bzw. in stark beanspruchten Bauteilen mit Kalkmörtel gemauert waren. Die Kuppeln und Gewölbe stellte er aus gebrannten Ziegeln und Kalkmörtel her. Leider fand Ramsis Wissa Wassef damit keinen Anklang in der ägyptischen Gesellschaft, da Lehmhäuser bzw. daraus entwickelte Bauformen allgemein als rückständig und ungesund galten. Deshalb konnte er in seiner Zeit außerhalb von Harrania nur eine relativ geringe Anzahl von Bauten, oft für ausländische Bauherren, realisieren. Dazu gehören: eine neue Sektion der Amerikanischen Universität in Kairo, vier französische Schulen, ein Zentrum für die ägyptisch-französische Mission, das Mahmoud-Mokhtar-Museum, verschiedene Privatbauten und drei Kirchen. Bei all diesen Projekten versuchte Ramsis Wissa Wassef, sich vom damaligen Zeitgeist zu lösen und zu einer neuen Formensprache nach Vorbildern in der ägyptischen Bautradition zu finden. Dies wird insbesondere an seinen Kirchenbauten deutlich, die sich in ihren Proportionen stark an den frühen koptischen Kirchen in Ägypten orientieren.

Seine Wettbewerbsentwürfe waren stets Mißerfolge. Zu weit waren sie von der vorherrschenden "modernen" europäischen Architektur entfernt. Anerkennung fanden die Bauten von Ramsis Wissa Wassef erst viel später. Neun Jahre nach seinem Tod (1974) wurde ihm der Aga Khan-Preis für Architektur im Jahre 1983 verliehen.

Heute folgt sein Schwiegersohn, Ikram Nosshi, weiter dessen Grundsätzen, nach denen sich die Planung an klimatischen und ökologischen Voraussetzungen sowie dem traditionellen Erbe orientiert. Mittlerweile gibt es in Ägypten breitere Schichten, besonders in den besser ausgebildeten Kreisen des Mittelstandes, die an der "neuen" ägyptischen Architektur interessiert sind. Neben privaten Bauherren sind die Auftraggeber Wüstenentwicklungsgesellschaften und Tourismusunternehmen, die nach zweckmäßigen Bauformen für die extremen Klimabedingungen suchen.

Ramsis Wissa Wassef Art Centre

Die Verleihung des Aga Khan-Preises für Architektur für das Ramsis Wissa Wassef Art Centre wurde wie folgt begründet: "For the beauty of its execution, the high value of its objectives and the social impact of its activities, as well as its influences as an example... for its role as a centre of art and life and for its endurance, its continuity and its promise." – Die perfekte Anpassung der Bauten an die Umgebung, das abwechslungsreiche Formenspiel und die Einbeziehung von Außenbereichen in die Grundrißgestaltung vermitteln ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Mensch, Landschaft und Architektur.

Werkstätten und Ausstellungsräume

Den größten Teil der Anlage in Harrania nehmen die Werkstätten und Ausstellungsgalerien ein. Die Werkstätten der Weber bestehen aus 3 x 3 und 3 x 4 m großen Räumen, die ähnlich wie in den Bazaren der Altstadt von Kairo aneinandergereiht in einer kleinen Gasse liegen. Je nach Webfläche finden ein bis drei Webstühle in den Räumen Platz. Zu einer Teepause oder zum Stillen der Babies, die die Weberinnen immer bei sich haben, setzt man sich in die Gasse.

Unmittelbar an die Werkstätten grenzt die Verkaufsausstellung für Teppiche und Batiken. Verglaste Öffnungen in den Tonnengewölben geben den Räumen eine Grundausleuchtung. Die Teppiche werden jedoch mit Spots aufgehellt.

Eine Ausstellung für museale Zwecke hat die Familie Wissa Wassef durch den Anbau mit Kuppeldächern an die ehemaligen Hühnerställe (Probebauten) eingerichtet.

Das Habib-Georgy Museum

In den Jahren 1968—70 baute Ramsis Wissa Wassef für seinen verstorbenen Schwiegervater Habib Georgy ein Skulpturenmuseum in Harrania. Habib Georgy war Lehrer für freies Gestalten und Bildhauerei und wurde von Ramsis Wissa Wassef sehr verehrt. Bei der gestalterischen Konzeption des Museums standen die natürliche Beleuchtung und der Kontrast zwischen dunklen Räumen und sonnendurchfluteten Höfen im Vordergrund. Durch kleine Wand- und Deckenöffnungen wurden die Innenräume im tageszeitlichen Wandel von den Lichtstrahlen durchwandert.

Wohnbauten

In den Jahren 1969—74 baute Ramsis Wissa Wassef auf dem Gelände in Harrania für seine Schwester Ceres und seinen Freund Mounir Nosshi freistehende Wohnhäuser. Weitere Wohnbauten entstanden für sieben Weberfamilien, die in Harrania mitarbeiteten. Obwohl jedes Haus einen individuellen Grundrißzuschnitt bekam, war die funktionelle Verteilung der Räume immer gleich. Im Erdgeschoß befanden sich die Wohn- und Wirtschaftsräume, im Obergeschoß die Schlafräume.

Kunsthandwerk

Nach seiner Rückkehr aus Frankreich erkannte Ramsis Wissa Wassef, daß auch das Kunsthandwerk in Ägypten im Begriff war auszusterben. Die Einführung von industrialisierter Massenproduktion, besonders im Bereich der Textilverarbeitung, hatte alte Handwerkstechniken verdrängt.

Wie schon in der Architektur suchte er nach Möglichkeiten, diese Traditionen zu erhalten und weiterzuentwickeln. Im Jahre 1946 entschloß er sich zu einem Experiment: Er wollte Kinder zu Webern ausbilden. In der Technik der Weberei sah Ramsis Wissa Wassef eine ausgewogene Kombination zwischen Handwerk und künstlerischer Tätigkeit; zudem verfügte er selbst über gute praktische Fähigkeiten. Er nahm drei Kinder in seinem Haus in Kairo auf, brachte ihnen die handwerklichen Fertigkeiten bei und ließ sie dann nach eigenen Ideen arbeiten. Was dabei entstand, waren vor allem von der ländlichen Umgebung geprägte Motive. Nach mehreren Jahren erreichten die heranwachsenden Weber ein vielversprechendes Niveau. Das bewog Ramsis Wissa Wassef im Jahre 1951, die Weberei in Harrania zu gründen. Damals wie heute war Harrania ein ländlicher Vorort von Kairo. Zwei seiner Schüler folgten ihm dorthin. 1952 nahm er eine Gruppe von 12 Kindern im Alter von 8—10 Jahren auf. Diese erste Generation von Webern, wie er sie später nannte, wurde von ihm, seiner Frau Sophie und den beiden älteren Webern in der Teppichweberei ausgebildet. Dabei wurden drei Prinzipien befolgt:

  • keine Vorzeichnungen oder Motivvorgaben,
  • keine äußere Beeinflussung,
  • keine Kritik durch Erwachsene.

In den Jahren 1956/57 zeigte Ramsis Wissa Wassef die ersten Teppiche in inländischen – ab 1958 in internationalen – Ausstellungen. Der große Erfolg führte zu einer kontinuierlichen Erweiterung der Weberei. Es folgten zahlreiche Ausstellungen, von denen neun (z.B. "Das Land am Nil", 1979) allein in Deutschland zu sehen waren. In den Jahren 1964—67 war eine Werkstatt für feine Baumwollarbeiten und Batik eingerichtet worden und 1966—68 wurde in Harrania eine Ausstellungsgalerie gebaut.

Suzanne, die Tochter von Sophie und Ramsis Wissa Wassef, gründete 1972 eine eigene Webergruppe, die sogenannte zweite Generation. Die neuen in Harrania aufgenommenen Kinder erhielten ihre Grundkenntnisse von den Webern der ersten Generation. Später jedoch, als sie die wichtigsten Fähigkeiten erworben hatten, arbeiteten sie von den älteren Webern räumlich getrennt – sie sollten ihre Kreativität möglichst unbeeinflußt entwickeln. Bald darauf gründete Suzanne Wissa Wassef noch eine Töpferei.

Heute sind insgesamt 67 Weber, 6 Batiker und 2 Töpfer in Harrania tätig. Die erste Webergeneration arbeitet mit Sophie Wissa Wassef, die anderen mit Suzanne und ihrer Schwester Yoanna.

Punkt Punkt Punkt

 

Fingerzeig Zu weiteren Problemen der aktuellen Stadtentwicklung siehe auch die Rubrik
         Stadtplanung in Ägypten

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